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Texty na nemeckú literatúru pre deti a mládež u Mikulášovej (student44.szm.sk-texty_na_literaturu_pre_deti_a_mladez.doc)

Texty na nemeckú literatúru pre deti a mládež u Mikulášovej

 

 

Francois Fénelon: Die seltsamen Begebenheiten des Telemach. Übertr. v. E. v. Faramond. Frankfurt u. a. 1749

 

Der erste Kampf bestund in dein Ringen; da denn ein Rhodiser ungefehr von fünf und dreisig Jahren alle die übrigen übertraf, welche sich unterfiengen, ihm entgegen zu gehen. Er besaß noch alle Stärcke der Jugend; seine Arme waren von starcken Nerven und fleischicht: Wenn er sich nur ein wenig bewegete, so sahe man alle seine Mußkeln, und er war eben so hurtig, als tapfer. Ich schiene ihm nicht würdig zu seyn, überwunden zu werden, und weil er meine Jugend mit Erbarmung ansahe, so wollte er sich zurücke begeben; ich aber stellete mich ihm vor die Augen. Hierauf griefen wir einander an, und drückete einer den andern dermassen, daß wir den Odem verlohren. Wir hat ten Schulter gegen Schulter, Fuß gegen Fuß; alle unsere Ner ven waren ausgespannet, und die Arme wie Schlangen in einander geschlungen; worbei sich ein jeder bestrebete, seinen Feind von der Erden in die Höhe zu heben. Bald versuchete er, mich zu überrumpeln, indem er mich auf die rechte Seite stieß; bald wendete er alle Gewalt an, mich auf die lincke Seite zu beugen. Indem er mich nun solcher gestalt antastete, stieß ich ihn mit solcher Heftigkeit, daß sich seine Lenden zusammen falteten; worauf er auf den Sand niederfiel, und mich zugleich niederriß; also daß ich auf ihm lag. Er bemühete sich aber um sonst und vergebens, mich unter sich zu bringen: Denn ich hielte ihn vest und unbeweglich unter mir. Das ganze Volk schrie aus: Sieg dem Sohne des Ulysses!

 

 

Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Wunderliche Fata einiger Seefahrer. 1. Buch. Nordhausen 1731

 

Indem aber nicht allein grosse Verdrießlichkeit, sondern viel leicht gar Lebens-Gefahr zu befürchten war, soferne meine Ge fährten dergleichen Gedancken merckten, hielt ich darmit an mich, und nahm mir vor auf andere Mittel zu gedencken, wo durch diese unvernünfftige Schiffarth rückgängig gemacht werden könne. Allein das unerforschliche Verhängniß überhob mich dieser Mühe, denn wenig Tage hierauff, erhub sich ein grausamer Sturm zur See, welchen wir von den hohen Fel sen-Spitzen mit erstaunen zusahen, jedoch gar bald durch ei nen  ungewöhnlichen hefftigen Regen in unsere Hütten getrieben wurden, da aber bey hereinbrechender Nacht ein je der im Begriff war, sich zur Ruhe zu begeben, wurde die gantze Insul von einem hefftigen Erdbeben gewaltig erschüttert, wor auff ein dumffiges Geprassele folgete, welches binnen einer oder zweyer Stunden Zeit noch 5. oder 6. mahl zu hören war. Meine Gefährten, ja so gar auch die zwey Krancken kamen gleich bey erster Empfindung desselben eiligst in meine Hütte gelauffen, als ob sie bey mir Schutz suchen wolten, und meyne ten nicht anders, es müsse das Ende der Welt vorhanden seyn, da aber gegen Morgen alles wiederum stille war, und der Son nen lieblicher Glantz zum Vorscheine kam, verschwand zwar die Furcht vor dasmahl, allein unser zusammengesetztes Schrecken war desto grösser, da wir die eintzige Einfahrt in un sere Insul, nehmlich den Auslauff des Westlichen Flusses, durch die von beyden Seiten herab geschossenen Felsen gäntz lich verschüttet sahen, so daß das gantze Westliche Thal von dem gehemmten Strome unter Wasser gesetzt war.

Dieses Erdbeben geschahe am l8den Jan. im Jahr Christi 1523. bey eintretender Nacht, und ich hoffe nicht unrecht zu haben, wenn ich solches ein würckliches Erdbeben oder Er schütterung dieser ganzten Insul nenne, weil ich selbiges selbst empfunden, auch nachhero viele Felsen-Risse und her abgeschossene Klumpen angemerckt, die vor der Zeit nicht da gewesen sind. Der Westliche Fluß fand zwar nach wenigen Wochen seinen geraumlichen Auslauff unter dem Felsen hin durch, nachdem er vielleicht die lockere Erde und Sand ausge waschen und fortgetrieben hatte, und solehergestallt wurde auch das Westliche Thal wiederum von der Wasser-Fluth be freyet, jedoch die Hoffnung unserer baldigen Abfahrt war auf einmahl gäntzlich zerschmettert, indem das neu erbaute Schiff unter den ungeheuern Felsen-Stücken begraben lag.

 

 

Johann Christoph Adelung: Leipziger Wochenblatt für Kinder 150. Stück v. 21.3.1774

 

Es mehr als einerley Art, die Kaffebohnen zu einem Getränke zuzubereiten, in ganz Jemen oder dem glücklichen Arabien, wird der Trank nicht aus den Bohnen selbst, sondern nur aus den Schalen bereitet. Und dies ist die Art, deren sich auch die Vornehmen in der Türkey bedienen. Es werden dazu die Scha len von den ganz reifen Früchten genommen und zerbrochen. Hernach setzt man sie in einem kleinen irdenen Gefäße auf Kohlen: dabey werden die Schalen beständig umgerührt, da mit sie nur ein wenig Farbe bekommen, nicht aber ordentlich gebrannt werden, wie unsere Bohnen. Sind sie hinlänglich ge brannt, so werden sie in kochend Wasser geschüttet, und der vierte Theil von den dünnen Häutchen, welche die Kaffeboh nen unmittelbar bedecken, hinzugethan, worauf man alles noch einmal zusammen auf dem Feuer aufwallen läßt. Dies Getränke heißt Kaffe auf sultanisch, wozu nur sehr wenig Zucker gehört, weil es an sich selbst schon eine angenehme Süßigkeit hat. Die Reisenden, die es getrunken haben, rühmen es sehr; allein, man kann es nirgend anders trinken, als in Ara bien, oder wo der Kaffe wächst, denn diese Schalen halten sich nicht lange, und müssen sehr trocken bewahret werden. Die geringste Feuchtigkeit, oder ein zu langes Verwahren giebt ih nen einen übeln Geschmack, daher sie auch nicht weit ver führt werden können. Der Preis dieser Schalen ist nach ihrem Werthe eben so verschieden, als der Preis der Bohnen selbst, als die ihrer Gestalt, Geruch, Farbe, Stärke und Größe nach, auch verschiedentlich bezahlt werden. Auch Bohnen aus ei nem und eben demselben Kaffegarten haben einen verschie denen Preis.

 

 

Christian Felix Weiße: Der Kinderfreund. Ein Wochenblatt. Erster Theil. Reutlingen 1818

 

Ich komme auf den letzten meiner Kinderfreunde; dies ist Herr Spirit, ein Dichter voller Empfindsamkeit, Edelmuth und Men schenliebe, der mit den schönen Wissenschaften sehr be kannt, und hauptsächlich in den witzigen Schriften der alten und neuen Völker wohl belesen ist. Er unterhält meine Kinder mit der Mythologie, oder der alten Fabellehre und Götterge schichte, weil man ohne diese die Dichter nicht leicht verste hen würde, und weiß sie durch seinen Vortrag ungemein anmutig zu machen: er zeigt ihnen die feinen Anspielungen, die darinnen liegen, und erklärt ihnen die Beschaffenheit ei nes Gedichts und die verschiedenen Gattungen derselben. Bald liest er ihnen aus unsern Dichtern schöne Stellen vor, und läßt sie rathen, warum dies oder jenes schön sey, so wie er ih nen auch bisweilen etwas Schlechtes vorliest, um sie auf die Probe zu stellen, ob sie solches auch empfinden, und ihm die Ursachen davon anzugeben wissen: bald liest er ihnen auch von seinen eignen Arbeiten kleine Lieder, Schäfergedichte, Fabeln, Erzählungen, Sinngedichte u. s. w. vor. Bisweilen, wenn eine besonders wichtige Veranlassung ist, verfertigt er auch kleine Schauspiele, vertheilet die Rollen unter die Kin der, und läßt sie dieselbe aufführen. - O! was für eine unaus sprechliche Freude ist dies. — Hauptsächlich suchet er sie dadurch immer auf die Fehler, die er an ihnen bemerkt, auf merksam zu machen, und schildert in den verschiedenen Rol len ihre verschiedenen Charaktere. Dadurch hat er auch schon bey ihnen oft mehr, als durch die strengsten Sittenlehren Gutes gestiftet; denn, indem sie ihre Fehler lächerlich gemacht se hen, und doch keines dem andern lächerlich seyn will, so hü ten sie sich künftig davor. Dies thut er auch wohl in kleinen satyrischen Erzählungen. Seine Verse sind fließend, leicht und wohlklingend, und wenn sie auch nicht von Gedanken strot zen, so sind sie doch nicht davon leer. Er ist überdies sehr mit den schönen Künsten bekannt, weiß alle Werke der Kunst, die uns von den alten Griechen und Römern noch übrig sind, hat die Beschreibung von den neueren Kunstsammlungen fleißig durchlesen, kennt die verschiedenen Meister, ihre Manier, und ihre vorzüglichsten Stücke; ja er zeichnet selbst recht artig und malet nicht übel in Miniatur: kurz, er besitzet die Fähig keit, das Schöne überall zu empfinden, und von dem, was es mehr oder weniger ist, wohl zu unterscheiden, das ist, mit ei nem Worte, einen guten Geschmak. In seinem Aeußerlichen ist er gerade das Gegentheil vom Herrn Papillion: nicht nur reinlich, sondern äußerst galant in seinem Anzuge, nach der strengsten Mode gekleidet, und würde lieber sich nicht satt es sen, als mit unreinlichen Manschetten oder schmutzigen Strümpfen erscheinen. Dies erhebt seinen wohlgebauten Kör per und seine angenehme gefällige Bildung. Von dem Frauen zimmer hat er eine ganz besondere hohe Meynung, und meine Mädchen sind ihm vorzüglich gut. Er hat selbst über die Erzie hung viel Gutes geschrieben, und suchet eine Hofmeisterstelle bey einem Prinzen, die er auch gewiß in jeder Absicht ver dient.

 

 

Eberhard von Rochow: Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen. Brandenburg u. a. 1776

 

Die beyden Bauern

 

Georg und Martin hatten ein jeder eine Hufe Landes. Nach ei niger Zeit kaufte Georg zu der seinigen noch zwo andere hinzu; gerieth aber darüber in solche Weitläuftigkeit, daß er den Mar tin um Geld ansprechen mußte, um seine Abgaben zu bezah len. Da sprach Martin zu ihm: »Eh, Gevatter Georg, wie geht das zu! Ihr wollt von mir Geld borgen, und ihr habt viel Acker land, und ich nur wenig?« »Das will ich euch sagen«, antwor tete Georg. >~Ihr habt wenig Land, und könnet alles selbst aufs beste bestellen; ich aber muß theures Gesinde halten, und die ses arbeitet unwillig und träge, ackert schlecht, übertreibt mein Vieh zur Unzeit, und ärgert mich krank — Dadurch bin ich so zurückgekommen. «

Wer auf einmal zu viel umfaßt, hebet nichts in die Höhe. Wer zuviel unternimmt, richtet wenig aus.

Was ein arbeitsamer Mann selbst thut, geräth besser, als was er durch andre Leute thun läßt, die nur ums Brodt dienen.

Georg Christian Raff: Naturgeschichte für Kinder. Reutlingen 1830

 

Die Spinnen

 

 

Die Spinnen sind lange keine so garstigen Thiere, als die Läuse; ja sie sind nicht einmal schädlich, viel weniger giftig. Man kann sie ohne Gefahr zerbeißen und verschlingen. Man darf Fleisch, Backwerk, Obst und Getränke frey vor ihnen hinstellen, sie fres sen und trinken nichts davon, und vergiften es auch nicht. Und wenn sie ja ihr Gespinn über etwas hinziehen, so thun sie es deßwegen, um Fliegen und Mücken darin zu fangen.

Man sollte also die Spinnen nicht hassen, sondern sie und ihre ausgespannten Netze gern haben wollen, weil sie damit sowohl viele tausend Fliegen und Mücken wegfangen und fressen, als auch damit so manches Obst zudecken, daß es nun wachsen und reif werden, und sodann zu seiner Zeit auf unsere Tische gebracht werden kann.

Was, lieber Herr...? die häßlichen Spinnengewebe gern se hen, und die fatalen Spinnen verbeißen und verschlingen? 0 ich bitte Sie, reden Sie doch nichts mehr davon; es wird mir sonst übel. — Ey was übel! Pfuy, schäme er sich! Jung gewohnt, alt gethan! Wer sich von euch jetzt nicht angewöhnt, alles an sehen, und von allem sprechen zu können; und gleich Uebel keiten empfinden, oder gar sterben will, wenn er eine Spinne, oder einen Kelleresel, oder eine Maus laufen sieht, der wird in Zukunft oft ausgelacht werden, und manches Vergnügen ent behren müssen.

Den lache ich sicher allemal aus, der deßwegen keine Kirsche oder Zwetschge, Birne oder Apfel, Pfirsich oder Weintraube essen will, weil eine Spinne darauf herum gelaufen ist, oder ihr Netz darüber hingespannt hat. Und mit dem habe ich gar kein wahres Mitleiden, der sich bei dem Anblik und Anmarsch ei ner Spinne entsetzt und schreyet und lärmt, gleich zuspringt, und tritt und stampft, und alles auffordert, das arme Thierchen zu haschen und zu tödten.

 

Carl Philipp Moritz: Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik. Berlin 1786

 

Verwildert und mißvergnügt ging dann Fritz zur Schule, wo er ge meiniglich zu spät kam. Die Mutter schalt, der Vater drohte, aber alles half nichts. Es ging so einen Tag und alle Tage.

Da nun Fritzens Eltern fast alle Hoffnung aufgaben, daß sie selbst je im Stande seyn würden, ihn wieder zur Ordnung zu gewöhnen, und auch leider! wegen vieler andern Geschäfte nicht Zeit genug hatten, sich so viel als nöthig war, mit der Erziehung ihres Sohnes zu beschäftigen, so sahen sie sich nach einem Mann um, dem sie das wichtige Geschäft der Erziehung ihres einzigen Sohnes auf tragen könnten, und sie waren so glücklich einen solchen zu fin den, der alle ihre Wünsche und Erwartung übertraf.

Die vorzügliche Bitte der Eltern an ihn war gleich im Anfange: er möchte doch ihren Sohn, womöglich, zur Ordnung zu gewöhnen suchen — weil nun Fritz auch erst vierzehn Jahr alt war, so sagte Stahlmann, (dis war der Nahme des jungen Mannes) habe er noch alle Hoffnung, einen ordentlichen Knaben aus ihm zu ziehen.

 

 

Und nun fing Stahlmann auch von Stund an seine Lektionen mit Fritzen damit an, daß er ihn bey jeder Gelegenheit zusammenle gen und zusammenstellen ließ, was zusammen gehörte, und von einander absondern ließ, was nicht zusammen gehörte.

Die Früchte davon zeigten sich bald. Fritz stand mit mehr Ver gnügen auf, kam zur rechter Zeit zur Schule, und betrug sich den ganzen Tag über vernünftiger und besser, so daß sich auch seine Eltern selbst über die schnelle Verwandlung wunderten, und sei nen Lehrer Stahlmann fragten, wie das doch zuginge.

Stahlmann gab zur Antwort, daß ganze Geheimnis bestehe darin, daß er Fritzen bey jeder Gelegenheit lehre, zusammenzulegen und zusammenzustellen was zusammen gehöre, und von einander abzusondern was nicht zusammen gehöre.

Durch die beständige Uebung gewöhnte sich Fritz dermaßen zu diesem Gedanken, daß es ihm am Ende so geläufig wurde, das zu sammengehörige zusammenzustellen und zu legen, daß er gar nicht einmal mehr daran dachte, es thun zu wollen, wenn er‘s that.

 

 

Johann Carl August Musäus: Moralische Kinderklapper für Kinder-und Nicht-kinder.                          Gotha 1788

 

Lieben Leute kennt ihr Fränzehen,

 

Unsers Herrn Pastoren Sohn?

 

Das ist euch ein feines Pflänzchen,

 

Hat voll Schelmerey sein Ränzchen,

 

Neckt und foppt die Mädchen schon.

 

Keine Schalkheit, keine Finte

 

Giebt es, die der Schelm nicht weiß.

 

Goß er neulich nicht mit Fleiß,

 

Oel dem Papa in die Tinte?

 

Auch hat er den schwarzen Kater

 

Seinen neuen Informator

 

heimlich in das Bett versteckt.

 

Und ihn bis auf den Tod erschreckt.

 

 

Denkt nur, der blödsichtgen Muhme

 

Bringt er eine schöne Blume,

 

Und steckt eine Nadel drein.

 

Sie empfängt sie mit Vergnügen,

 

Will mit Inbrunst daran riechen,

 

Fängt an überlaut zu schreyn;

 

Denn die unbesorgte Baase

 

Stach sich weidlich in die Nase.

 

Ueber diese Schelmereyn

 

Lacht Mama, drum wirds auch immer

 

Mit dem schönen Früchtchen schlimmer.

 

 

J. G. Herder u. August Jacob Liebeskind: Palmblätter. Erlesene morgendländische Erzählungen für die Jugend. Bd. 1. Berlin 1816

 

 

Abbas, mit dem Zunahmen der Große, König von Persien, war einst auf der Jagd verirret. Er kam auf einen Berg, wo ein Hir tenknabe eine Heerde Schafe weidete: der Knabe saß unter ei nem Baum und blies die Flöte. Die süße Melodie des Liedes und die Neugierde lockte den König näher hinzu: das offene Gesicht des Knaben gefiel ihm; er fragte ihn über allerlei Din ge, und die schnellen, treffenden Antworten dieses Kindes der Natur, das ohne Unterricht bei seiner Heerde aufgewachsen war, setzten den König in Verwunderung. Er hatte noch seine Gedanken darüber, als sein Vezier dazu kam. »Komm, Ve zier«, rief er ihm entgegen, »und sage mir, wie dir dieser Kna be gefällt.« Der Vezier kam herbei: der König setzte seine Fragen fort und der Knabe blieb ihm keine Antwort schuldig. Seine Unerschrockenheit, sein gesundes Urtheil, und seine of fene Freimüthigkeit nahmen den König und den Vezier so sehr ein, daß jener beschloß, ihn mit sich zu nehmen und erziehen zu lassen, damit man sähe, was aus dieser schönen Anlage der Natur unter der Hand der Kunst werde.

Wie eine Feldblume, die der Gärtner aus ihrem dürren Boden hebt und in ein besseres Erdreich pflanzet, in kurzem ihren Kelch erweitert und glänzendere Farben annimmt: so bildete sich auch der Knabe unvermerkt zu einem Manne von großen Tugenden aus. Der König gewann ihn täglich lieber; er gab ihm den Namen Ah Beg und machte ihn zu seinem Großschatz meister.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Joachim Heinrich Campe: Robinson der Jüngere. Ein Lese-Buch für Kinder. Braunschweig 1847. Achter Abend

 

Fritzchen. Mutter! Mutter!

Mutter. Was willst du, Fritzchen?

Fritzchen. Möchtest Johannes ein anderes Hemde schicken! Mutter. Warum ein anderes Hemde?

Fritzchen. Ja, er kann sonst nicht aus dem Bade kommen.

Mutter. Warum nicht? Kann er denn sein heutiges Hemde nicht wieder anziehen?

Fritzchen. Nein, das hat er gewaschen, und nun ist es noch ganz naß. Er wollte es wie Robinson machen!

Mutter. Auch gut! Nun, so will ich dir eins geben. — Da, lauf und mache, daß ihr bald hier seid! Vater will uns wieder was erzählen.

Mutter (zu Johannes, der mit den übrigen kommt. Nun, Freund Robinson, wie bekommt dir das Bad?

Johannes. Recht gut! Aber das Hemde wollte nicht wieder trocken werden.

Vater. Du hast nicht bedacht, daß es hierzulande nicht so warm ist, als es auf Robinsons Insel war. — Aber wo blieben wir denn gestern?

Dietrich. Da Robinson zu Bette ging, und den andern Morgen— Vater. Ah! nun weiß ich schon! — Am andern Morgen also stand Robinson frühzeitig auf und rüstete sich zur Jagd. Seine J agdtasche stopfte er mit gebratenen Kartoffeln und mit einem derben Stück Schildkrötenbraten aus, welches er in Kokos blätter gewickelt hatte. Dann steckte er sein Beil an die Seite, wand den Strick, welchen er gestern zum Lamafange gedreht hatte, um den Leib, nahm seinen Sonnenschirm in die Hand und machte sich auf den Weg.

Es war sehr früh am Tage. Er beschloß daher, diesmal einen Umweg zu nehmen, um zugleich noch einige andere Gegenden seiner Insel kennenzulernen.

Unter der Menge von Vögeln, wovon die Bäume wimmelten, sah er auch viele Papageien von wunderschönen Farben. Wie gern hätte er einen davon gehabt, um ihn zahm und zu seinem Gesellschafter zu machen! Aber die Alten waren zu klug, um sich greifen zu lassen, und ein Nest mit Jungen sah er nir gends. Er mußte also die Befriedigung dieses Wunsches für dasmal aufschieben.

Dafür entdeckte er auf diesem Wege etwas, das ihm nötiger als ein Papagei war. Indem er nämlich einen Hügel nahe am Mee re bestieg und von da hinab zwischen Felsenklüfte blickte, sah er daselbst etwas liegen, das seine Neugierde reizte. Er kletter te also hinab und fand zu seinem großen Vergnügen, daß es —was meint ihr?

Dietrich. — Perlen waren!

Johannes. Ja, darüber würde er sich auch gefreut haben! Es war wohl Eisen?

Nikolas. I, weißt du nicht mehr, daß in den heißen Ländern kein Eisen gefunden wird? — Es mochte wohl wieder ein Klum pen Gold sein! —

Lotte. Ich dachte gar! Würde er sich denn darüber gefreut ha ben? Das Gold konnte er ja gar nicht gebrauchen! Vater. Ich sehe wohl, ihr werdet es doch nicht raten: ich will‘s also nur selbst sagen. Was er fand, war — Salz.

 

 

 

 

Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Bd. 3. Heidelberg 1808

Das bucklichte Männlein

 

 

Will ich in mein Gärtlein gehn,

 

Will mein Zwiebeln gießen,

 

Steht ein bucklicht Männlein da,

 

Fängt als an zu niesen.

 

 

Will ich in mein Küchel gehn,

 

Will mein Süpplein kochen,

 

Steht ein bucklicht Männlein da,

 

Hat mein Töpflein brochen.

 

 

Will ich in mein Stüblein gehn,

 

Will mein Müslein essen,

 

Steht ein bucklicht Männlein da,

 

Hat‘s schon halber gessen.

 

 

Will ich auf mein Boden gehn,

 

Will mein Hölzlein holen,

 

Steht ein bucklicht Männlein da,

 

Hat mir‘s halber gstohlen.

 

 

Will ich in mein Keller gehn,

 

Will mein Weinlein zapfen,

 

Steht ein bucklicht Männlein da,

 

Tut mirn Krug wegschnappen.

 

 

Setz ich mich ans Rädlein hin,

 

Will mein Fädlein drehen,

 

Steht ein bucklicht Männlein da,

 

Läßt mirs Rad nicht gehen.

 

 

 

 

Geh ich in mein Kämmerlein,

 

Will mein Bettlein machen,

 

Steht ein bucklicht Männlein da,

 

Fängt als an zu lachen.

 

 

Wenn ich an mein Bänklein knie,

 

Will ein bißchen beten,

 

Steht ein bucklicht Männlein da,

 

Fängt als an zu reden:

 

 

»Liebes Kindlein, ach, ich bitt,

 

Bet fürs hucklicht Männlein mit!«

 

 

 

Friedrich Rückert: Gesammelte poetische Werke in zwölf Bänden. Bd. 3. Frankfurt 1882

 

Vom Büblein, das überall mitgenommen hat sein wollen

 

 

Denk an! das Büblein ist einmal

 

Spazieren gangen im Wiesenthal;

 

Da wurd‘s müd‘ gar sehr,

 

Und sagt: ich kann nicht mehr;

 

Wenn nur was käme,

 

Und mich mitnähme!

 

Da ist das Bächlein geflossen kommen,

 

Und hat‘s Büblein mitgenommen;

 

Das Büblein hat sich aufs Bächlein gesetzt,

 

Und hat gesagt: So gefällt mir‘s jetzt.

 

Aber was meinst du? das Bächlein war kalt,

 

Das hat das Büblein gespürt gar bald;

 

Es hat‘s gefroren gar sehr,

 

Es sagt: Ich kann nicht mehr;

 

Wenn nur was käme,

 

Und mich mitnähme!

 

Da ist das Schifflein geschwommen kommen,

 

Und hat‘s Büblein mitgenommen;

 

Das Büblein hat sich aufs Schifflein gesetzt,

 

Und hat gesagt: Da gefällt mir‘s jetzt.

 

Aber siehst du? das Schifflein war schmal,

 

Das Büblein denkt: Da fall‘ ich einmal;

 

Da fürcht‘ es sich gar sehr,

 

Und sagt: Ich kann nicht mehr;

 

Wenn nur was käme,

 

Und mich mitnähme!

 

Da ist die Schnecke gekrochen gekommen,

 

Und hat‘s Büblein mitgenommen;

 

Das Büblein hat sich in‘s Schneckenhäuslein gesetzt,

 

Und hat gesagt: da gefällt mir‘s jetzt.

 

Aber denk! die Schnecke war kein Gaul,

 

Sie war im Kriechen gar zu faul;

 

Dem Büblein ging‘s langsam zusehr;

 

Es sagt: Ich mag nicht mehr; (…)

 

 

 

Friedrich Güll: Kinderheimat. Stuttgart 1836

 

Zuckerladen

 

 

Kommt nur herbei, ihr Leut‘,

 

Gute Waar‘ hab‘ ich heut‘.

 

Zucker und Honigseim,

 

Bonbons und Gerstenschleim,

 

Lebkuchen, Pfeffernuß,

 

Rosinen, Zwetschgenmuß,

 

Quitten, Johannisbrod,

 

Bisquit und Anisbrod,

 

Weinbeer‘ und Zitronat,

 

Confekt und Schokolad‘,

 

Schifflein und Zuckerstern‘,

 

Feigen und Mandelkern‘,

 

Datteln und Hutzelbrod,

 

Ei, so versucht ein Loth,

 

Hier kauft ihr Alles ächt,

 

Was ihr nur haben möcht‘.

 

 

Wilhelm Hey: Funfzig Fabeln für Kinder. Hamburg 1836

Esel

 

 

Esel, du fauler, so geh‘ doch fort,

 

Schleichst ja wie eine Schnecke dort.

 

E. Laß doch! lauf ich auch nicht mit Hast,

 

Trag‘ ich doch redlich meine Last.

 

Mancherlei Dienst der Herr begehrt

 

Mich für die Säcke, zum Laufen das Pferd.

 

 

Und wie die Tagesmüh‘ war aus,

 

Kam auch der Esel sacht‘ nach Haus.

 

Hatte sein Plätzchen im Stall beim Pferd,

 

Fand sein Futter, wie ers begehrt‘,

 

Streckt‘ auf die Streu sich mit Bedacht,

 

Schlief gar ruhig die ganze Nacht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder -und Hausmärchen

Erste Niederschrift (1810): Die jüngste Tochter des Königs ging hinaus in den Wald und setzte sich an einen kühlen Brun nen. Darauf nahm sie eine goldene Kugel und spielte damit, als diese plötzlich in den Brunnen hinabrollte.

 

Erster Druck (1812,): Es war einmal eine Königstochter, die ging hinaus in den Wald und setzte sich an einen kühlen Brun nen. Sie hatte eine goldene Kugel, die war ihr liebstes Spielwerk, die warf sie in die Höhe und fing sie wieder in der Luft und hatte ihre Lust daran. Einmal war die Kugel zu hoch geflo gen; sie hatte die Hand schon ausgestreckt und die Finger ge krümmt, um sie wieder zu fangen, da schlug sie neben vorbei auf die Erde, rollte und rollte und geradezu in das Wasser hin ein.

 

Endgültige Fassung (1857): In den alten Zeiten, wo das Wün schen noch geholfen hat, lebte ein König dessen Töchter waren alle schön, aber die jüngste war so schön, daß die Sonne selber, die doch so viel gesehen hat, sich verwunderte, sooft sie ihr ins Gesicht sah. Nahe bei dem Schlosse des Königs lag ein großer dunkler Wald, und in dem Walde unter einer alten Linde war ein Brunnen: wenn nun der Tag recht heiß war, so ging das Kö nigskind hinaus in den Wald und setzte sich an den Rand des kühlen Brunnens, und wenn sie Langeweile hatte, so nahm sie eine goldene Kugel, warf sie in die Höhe und fing sie wieder; und das war ihr liebstes Spielwerk.

Nun trug es sich einmal zu, daß die goldene Kugel der Königs tochter nicht in ihr Händchen fiel, das sie in die Höhe gehalten hatte, sondern vorbei auf die Erde schlug und geradezu in das Wasser hineinrollte.

 

Ludwig Bechstein: Sämtliche Märchen

Die sieben Geißlein

 

Es ist einmal eine alte Geiß gewesen, die hatte sieben junge Zicklein, und wie sie einmal fort in den Wald wollte, hat sie ge sagt: »Ihr lieben Zicklein, nehmt euch in acht vor dem Wolf und laßt ihn nicht herein, sonst seid ihr alle verloren.« Dar nach ist sie fortgegangen.

In einer Weile rappelt was wieder an der Haustüre und ruft:

»Macht auf, macht auf, liebe Kinder! Euer Mütterlein ist aus dem Wald gekommen!« Aber die sieben Geißlein erkannten‘s gleich an der groben Stimme, daß das ihr Müuerlein nicht war, und haben gerufen: »Unser Mütterlein hat keine so grobe Stim me! « Und haben nicht aufgemacht.

Nach einer Weile rappelt‘s wieder an der Türe, und sagte ganz fein und leise: »Macht auf, macht auf, ihr lieben Kinder! Euer Mütterlein ist aus dem Walde kommen!«

Aber die jungen Geißlein guckten durch die Türspalte und ha ben ein Paar schwarze Füße gesehen, und gerufen: »Unser Mütterlein hat keine so schwarzen Füße!« Und haben nicht aufgemacht.

Wie das der Wolf, denn er war es, gehört hat, ist er geschwind hin in die Mühle gelaufen, und hat die Füße in Mehl gesteckt, daß sie ganz weiß worden sind. Danach ist er wieder vor die Türe gekommen, hat die Füße zur Spalte hinein gesteckt, und hat wieder ganz leise gerufen: »Macht auf, macht auf ihr lieben Kinder! Euer Mütterlein ist aus dem Walde kommen!«

Und wie die Geißlein die weißen Füße gesehen haben und die leise Stimme gehört, da haben sie ja gemeint, ihr Mütterlein sei‘s, und haben geschwind aufgemacht. Aber kaum haben sie aufgemacht gehabt, so ist der Wolf hereingesprungen. Ach wie sind da die armen Geißlein erschrocken und haben sich ver stecken wollen! eins ist unters Bett, eins unter den Tisch, eins hinter den Ofen, eins hinter einen Stuhl, eins hinter einen gro ßen Milchtopf, und eins in den Uhrkasten gesprungen. Aber der Wolf hat sie alle gefunden und zusammengebracht. Her nach ist er fortgegangen, hat sich in den Garten unter einen Baum gelegt, und hat angefangen zu schlafen.

 

Wilhelm Hauff: Märchen

Das Gespensterschiff

Im Hafen von Balsora schifften wir uns mit günstigem Winde ein. Das Schiff, auf dem ich mich eingemietet hatte, war nach Indien bestimmt. Wir waren schon fünfzehn Tage auf der ge wöhnlichen Straße gefahren, als uns der Kapitän einen Sturm verkündete. Er machte ein bedenkliches Gesicht, denn es schien, er kenne in dieser Gegend das Fahrwasser nicht genug, um einem Sturm mit Ruhe begegnen zu können. Er ließ alle Segel einziehen, und wir trieben ganz langsam hin. Die Nacht war angebrochen, war hell und kalt, und der Kapitän glaubte schon, sich in den Anzeichen des Sturmes getäuscht zu haben. Auf einmal schwebte ein Schiff, das wir vorher nicht gesehen hatten, dicht an dem unsrigen vorbei. Wildes Jauchzen und Geschrei erscholl aus dem Verdeck herüber, worüber ich mich, zu dieser angstvollen Stunde vor einem Sturm, nicht we nig wunderte. Aber der Kapitän an meiner Seite wurde blaß wie der Tod. »Mein Schiff ist verloren«, rief er, »dort segelt der Tod!« Ehe ich ihn noch über diesen sonderbaren Ausruf befra gen konnte, stürzten schon heulend und schreiend die Matro sen herein. »Habt ihr ihn gesehn?« schrien sie. »Jetzt ist‘s mit uns vorbei!«

Der Kapitän aber ließ Trostsprüche aus dem Koran vorlesen und setzte sich selbst ans Steuerruder. Aber vergebens! Zuse hends brauste der Sturm auf, und ehe eine Stunde verging, krachte das Schiff und blieb sitzen. Die Boote wurden ausge setzt, und kaum hatten sich die letzten Matrosen gerettet, so versank das Schiff vor unseren Augen, und als ein Bettler fuhr ich in die See hinaus. Aber der Jammer hatte noch kein Ende. Fürchterlicher tobte der Sturm; das Boot war nicht mehr zu re gieren. Ich hatte meinen alten Diener fest umschlungen, und wir versprachen uns, nie voneinander zu weichen. Endlich brach der Tag an. Aber mit dem ersten Blick der Morgenröte faßte der Wind das Boot, in welchem wir saßen, und stürzte es um. Ich habe keinen meiner Schiffsleute mehr gesehen. Der Sturz hatte mich betäubt, und als ich aufwachte, befand ich mich in den Armen meines alten, treuen Dieners, der sich auf das umgeschlagene Boot gerettet und mich nachgezogen hatte. Der Sturm hatte sich gelegt.

 

Volksbücher. Hrsg. von G.O.Marbach u. O.L.B. Wolff

Wie sich Eulenspiegel von einem Bauer ein eigen Land kaufte

 

Darnach kam Eulenspiegel wieder in das Land in ein Dorf und wartete, bis der Herzog wieder gen Zelle reiten wollte. Indeß sah er einen Bauer zu seinem Acker gehen. Da fuhr er mit ei nem Pferde und einem leeren Karren herbei und fragte den Bauer, weß der Acker wäre? Der Bauer antwortete: »Er ist mein, ich habe ihn ererbt.« Eulenspiegel sprach: »Was er ihm geben solle für den Karren voll Erde von dem Acker.« Der Bauer sprach: »Einen Schilling nehme ich dafür.« Eulenspie gel gab ihm einen Schilling und warf den Karren voll Erde, setzte sich hinein und fuhr nach Zelle. Als nun der Herzog ge ritten kam, bemerkte er den Eulenspiegel, wie er auf dem Kar ren in der Erde bis an die Schultern saß. Der Herzog sprach:

»Eulenspiegel! hab ich Dir nicht mein Land bei Henken ver boten?« Eulenspiegel sprach: »Gnädiger Herr! ich bin nicht in eurem Lande, ich sitze in meinem eigenen Lande, das ich von einem Bauer erkauft habe, der sagte mir, es wäre sein Erb theil.« Der Herzog sprach: »Fahre hin mit Deinem Lande und komme nicht wieder; ich will Dich sonst mit Pferd und Karren henken lassen!« Darauf sprang Eulenspiegel auf sein Pferd, ritt aus dem Lande und ließ den Karren vor der Burg stehen.

 

Ludwig Bechstein: Deutsches Sagenbuch. Nr. 807

 

In die Neumünsterkirche zu Würzburg stieg einst ein Dieb; er hatte wahrgenommen, daß ein Christusbild allda mit einer rei chen güldnen Kette geziert war, die ein frommer Gläubiger zur Erfüllung eines Gelübdes demselben geopfert. In ernster Ruhe stand das Kruzifix, die Arme fest am Kreuzesstarnrn; strafend schienen die Augen des heiligen Leichnames den Kirchenräu ber anzublicken, aber der Dieb ließ sich nicht schrecken, er nahte dem hölzernen Bilde und streckte die Hand gierig nach der Goldkette aus. Indem so ließ das Bild seine Arme vom Kreu zesstamme los und umhalste den Dieb, was diesem sehr drü ckend war. Er ächzete und krächzete wie ein Fuchs im Eisen, aber das hörte niemand; er winselte, wimmerte und betete, das hörte auch niemand, denn das Kruzifix stand in der Krypte der Neumünsterkirche. Endlich, als ihm die Umarmung schier un erträglich ward, schrie er: Zetermordio, zu Hülfe, zu Hülfe! —das endlich hörten die Leute, und fanden den Vogel, und ban den ihn, und taten ihn in einen sichern Käfig; aber ein Wunder begab sich noch, des Kreuzbildes Arme blieben, so wie sie den Dieb losgelassen, vor den Leib hin ausgestreckt stehen, und so wird es noch heute gezeigt und angestaunt.

 

 

Theodor Dielitz: Die Helden der Neuzeit. Berlin 1851

Als der helle Haufen, durch neue Schaaren verstärkt, ins Würzburgische einfiel, erhoben sich auch in Franken die Bau ern. Die Ritter und Prälaten mußten in größter Eile fliehen, und manche wurden selbst gezwungen, mit den Empörern ge meinschaftliche Sache zu machen. Dies harte Loos traf auch den berühmten Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, der vier Wochen lang eine der wildesten Schaaren anführen mußte, bis er so glücklich war, sich von ihr loszumachen. Ueberall wurden Burgen und Klöster ausgeplündert und in Brand gesteckt, alle Bilder und Kruzifixe in den Kirchen zer schlagen und selbst Priester am Altare ermordet. Auch die Stadt Würzburg wurde, nachdem der Bischof entflohen war, von den Wüthenden genommen und das feste Schloß belagert. Aber schon schwebte das Schwert des Gerichts über den Häuptern der Rasenden. Als der Truchseß von Waldburg alle Streitkräfte des schwäbischen Bundes vereinigt hatte, griff er die würtembergischen Bauern bei Böblingen an, und brachte ihnen eine solche Niederlage bei, daß achttausend derselben todt auf dem Platze blieben. Dann zog er nach Weinsberg, steckte es in Brand und ließ alle Gefangenen, die in der Stadt gemacht wurden, hinrichten, den Pfeifer aber, der bei der Er mordung des Grafen von Helfenstein und der siebzig Ritter aufgespielt hatte, ließ er mit einer langen Kette an einen Pfahl binden und lebendig verbrennen.

 

 

 

Die Geburt Jesu. In: Johann Peter Hebel: Biblische Erzählungen. In: Sämtliche Werke Bd. IV. Karlsruhe 1832

 

Aber in welchem Palast oder Kirchlein wird der Sohn Mariä gebo ren werden? Wer wird ihm von Cedernholz die Wiege verfertigen und mit goldenem Blumwerk schmücken?

Der römische Kaiser Augustus ließ einen Befehl ausgehen, daß alle Einwohner des Landes sollten geschätzt, das heißt: gezählt und aufgeschrieben werden. Jeder mußte sich in dem Ort seiner Heimath und Herkunft stellen, daß er daselbst aufgeschrieben würde. Demnach begab sich auch Joseph mit Maria, seinem ver trauten Weibe, aus Nazareth, ihrem Wohnorte, nach Bethlehem in Juda, weil sie von dem Geschlechte Davids waren, daß er sich aufschreiben ließe.

Es mögen damals viele Leute nach Bethlehem gekommen seyn, und war wenig Raum in dem Städtlein. Als aber Maria daseIbst war, gebar sie ihren Sohn, und fand keinen Raum, wohin sie ihn hätte legen können, als in eine Krippe. Das war der Palast, in wel chem das Kind geboren ward, welches sein Volk sollte selig ma chen von den Sünden. Denn Gott sieht nicht auf das Auswendige. Es waren in selbiger Nacht Hirten auf dem Felde, bei den Hürden, die hüteten ihre Heerden. Zu diesen trat des Herrn En gel, und seine Klarheit umleuchtete sie. Der Engel sprach: »Ich verkündige euch große Freude, die allem Volk wiederfahren wird. Denn siehe, euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr in der Stadt David, und das habt zum Zeichen, ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in eine Krippe liegen.« Ja, es sammelte sich um sie die Menge der himm lischen Heerschaaren, die lobten Gott und sprachen: »Ehre sey Gott in der Höhe, Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohl gefallen.« — Es mögen wohl die nämlichen Hirten gewesen seyn, in deren Eigenthum das Kind geboren wurde. Die Hirten giengen eilends nach Bethlehem, und fanden Maria und Joseph und das Kind in der Krippe liegend. Da lobten sie Gott und erzählten, was ihnen von diesem Kinde war gesagt worden, und alle, die es hör ten, wunderten sich. Maria aber behielt alle diese Worte, und be wegte sie in ihrem Herzen.

Das ist die heilige Christnacht oder Weihnacht, in welcher Gott den Kindern schöne Gaben schenkt, daß sie sich jährlich ihrer Rückkehr freuen und das Kindlein lieben sollen, das in dieser Nacht zu Bethlehem geboren war. — Manches Kind will fragen: ob dieses der Verheißene sey? Ja es ist der Verheißene, in welchem alle Geschlechter der Erde sollen gesegnet werden.

Der Name des Kindes ward genannt Jesus, welchen er empfangen hat von den Engeln, und heißt so viel als Seligmacher, weil er von Gott zum Retter und Seligmacher der Menschen bestimmt war.

 

 

Christoph von Schmid: Der gute Fridolin und der böse Dietrich. Augsburg 1830

 

 

Als die Herrschaft in der Dämmnerung näherkam, bemerkte Fritz zuerst, daß sich bei dem Dornbusche jemand rege. »Wer bist du?« rief er. »Gib Antwort!« Dietrich richtete sich mit Hilfe eines Steckens mühsam auf und hinkte ganz erbäramlich herbei. Er zog den verbundenen Fuß immer etwas empor und tat, als könnte er sich an seinem Stecken kaum aufrechterhalten.

Herr von Finkenstein sprach: »Woher kommst du noch so spät, Knabe, und wo willst du noch hin?«

Der falsche, boshafte Dietrich tat einen tiefen Seufzer, verzerrte, als wie von unausstehlichen Schmerzen gequält, das Gesicht und sagte mit kläglicher Stimme: »Ach, ich armer, kranker Knabe habe keine Heimat, weder Vater noch Mutter und muß leider bet teln. Wegen mneines bösen Fußes nimmt mich niemand in Dienst, so gern ich auch arbeiten wollte. Ich komme drei Stunden weit her, von dem Scharfrichter zu Schlehenhürst; der legte mir ein Pflaster auf meinen Fuß; das brennt nicht anders als das höllische Feuer. Aber dieser mein trefflicher Arzt sagt, das müsse so sein, um das faule Fleisch wegzubeizen. Ich habe mich im Wald ver irrt. Seit heute Mittag hinke ich zwischen Dornen und Stauden umher und habe nichts gegessen, noch getrunken. Ich wollte heu te noch nach Hirsebfelden. Allein, ich werde wohl hungrig und durstig unter firiem Himmel übernachten müssen.« Er zog ein zerrissenes Taschentüchlein heraus und stellte sich, als trockne er sich die Augen, die aber gar nicht naß waren. Die gnädige Frau sprach gerührt: »Ach, du armer Schelm! Hirschfelden kann er heute nicht mehr erreichen. Du, Luise, sag doch einmal, was wir mit dem Knaben anfangen sollen!« Die kleine Luise sagte mit Tränen in den Augen: »Wir wollen ihm ein Ahendessen geben und ihn über Nacht behalten.« Fritz rief: »Ja, das wollen wir; nicht wahr, Mama? Und Papa ist dann schon so gütig, den Fuß des armen Knaben heilen zu lassen, wie der Onkel den Arm des armen Niklas heilen ließ.«

Herr von Finkenstein blickte den Dietrich scharf an, als zweifle er, ob auch alles wahr sei, was der Knabe gesprochen hatte.

Dietrich sagte aber: »Ich muß Euren Gnaden doch meinen Fuß zeigen. Obwohl uns nur das erste Mondsviertel und die Abendhelle leuchtet, so werden Sie sich doch genug daran sehen.« Er fing an, die Schnur, mit der die Lumpen zusammengebunden wa ren, aufzuknüpfen. Der schlaue Betrüger rechnete sicher darauf, die Herrschaft werde die Wunde nicht sehen wollen. Die gnädige Frau winkte auch wirklich sogleich mit der Hand und rief: »Laß es gut sein; ich kann die Wunde nicht sehen. Ich glaube dir ohne das. Komm immerhin mit uns!«

Die Herrschaft ging weiter, und Dietrich hinkte hinter ihnen her, als vermöchte er ihr kaum nachzukommen, und lachte sie wegen ihrer Leichtgläubigkeit heimlich aus.

 

Wilhelm Bauberger: Die Beatushöhle. Eine lehrreiche Erzählung für die reifere Jugend. Augsburg 1831  

 

Theodora hatte auch wirklich mit Tagesanbruch ihre Hütte ver lassen, und stieg, von ihren braven Hausleuten unterstützt, den Berg hinan nach der Beatushöhle. Es war, seit sie von ihrer Krankheit aufgestanden, zum ersten Male, daß sie so einen weiten Weg unternahm. Das gestrige Gespräch mit dem frommen Vater, worinn er ihr Nachricht von dem Leben und der Freiheit ihres Ge mahles ertheilte, hatte sie sehr gestärkt. Und die Hoffnung, daß sie diesen Morgen in der Beatushöhle noch viel mehr von ihm er fahren sollte, hatte ihren Fußtritt beflügelt. Oft, wenn ihre Beglei ter sie zum Ausrasten ermahnten, sagte sie: »Ich bin nicht müde, ihr lieben Leute, gewiß nicht. Seht nur, wie kräftig ich hinanstei ge. Mir ist heute so wohl, als wäre ich nie krank gewesen. Der lie be Gott ist doch recht gut. Er wußte, welch‘ ein Heilmittel meine Genesung am chnellsten befördere, und schickte mir eine Kun de von meinem Gemahle. Könnt‘ ich ihm nur genug danken. Doch er sieht in mein Herz und weiß meine Gedanken.« Oder sie lächelte, mit den Worten: »Noch darf ich nicht ruhen. Wenn mich aber die Huld des Herrn glücklich in des Gemahles Arme geführt hat, dann will ich ruhen. Dann wird mir die Ruhe noch süßer schmecken, als unter den Blumen in der schattigen Laube meines Gärtleins.« —

So jähe der Weg nach der Beatushöhle hinanragte, so klagte die gute Frau doch nie über Mattigkeit, und kam nach Verlauf von zwei Stunden glücklich auf dem Felsen an. Hundert Schritte tiefer als die Beatushöhle stand, war der Felsen mit Gesträuch umwach sen. Hier führte der Weg durch. Wie Theodora allmählich über das Gesträuch heraufstieg, ward sie dem Grafen sichtbar, der sie auch sogleich erkannte.

»Sie kömmt! sie kömmt! rief er vor Freude außer sich dem Grei sen zu: Theodora! theures Weib! Sie ist es.« Und augenblicklich wollte er am Felsen hinabklettern. Beatus hielt ihn aber sanft zu rück. »Bedenkt doch, edler Graf, sprach er, daß die gute Frau erst von einer schweren Krankheit aufgestanden. Zu schnelle Ueber raschung könnte sie tödten. Zieht euch ein wenig hinter die Rei hen der Landleute zurück. Ich aber will ihr entgegen gehen, und sie euch dann selbst in eure Arme führen.«

 

 

Margarete Wulff (Anna Stein): 52 Sonntage oder Tagebuch dreier Kinder. Berlin u. a.

Dicht am Moor wohnt ein ganz ehrlicher Spitzhube, das heißt, ein Mann, der früher im Zuchthause war, weil er gestohlen hat te, und als er zurückkam, wollten sie ihn nicht mehr im Dorfe haben, wo er früher gewohnt hatte und bauten ihm weit weg ein Haus am Moor, und gaben ihm ein Stück Land, wo er Korn säen und Kartoffeln pflanzen kann. Da wohnt er nun; wir sahen ihn auch; er sieht ganz aus wie andere Menschen, und gar nicht böse. Er hat auch eine Frau und drei Kinder, denen schenkten wir allerlei, was wir mitgenommen hatten auf die Reise, denn so nannten wir unsere Fahrt, Kuchen und Früchte und auch et was Geld, das freute sie sehr. — Der Mann stiehlt auch jetzt gar nicht mehr, das hat er sich ganz abgewöhnt. — Als wir wieder nach Hause kamen, tranken die großen Leute Thee, und wir bekamen Erdbeeren mit Milch und Butterbrot. Das war ein sehr vergnügter Tag! —Sonnabend. An dem Tage bekamen wir Besuch, den wir gar nicht kannten, und zwei Kinder waren auch mit, aber Mäd chen, und so alt als Wilhelm und ich. Sie kamen mit ihren El tern aus Berlin, wo diese ein großes Haus haben, aber gar keinen Garten, und doch sprachen die Mädchen immer von ih rem Garten. Das konnte ich nicht begreifen, und ich fragte und fragte, und am Ende kam heraus, daß sie zwei Kasten mit Erde haben, und daß darin Kartoffeln gepflanzt sind, und das nen nen sie ihren Garten; ich mußte so darüber lachen, daß ich fast umgefallen wäre. Herr Flohr, der es hörte, machte mir nachher Vorwürfe und sagte, man müsse niemals darüber lachen, wenn jemand genügsam sei und sein kleines Eigentum lieb habe. Es that mir auch leid, daß ich gelacht habe, denn eben weil wir so viel haben, einen so großen, großen Garten, hätte ich das nicht thun sollen. In dem Augenblick fiel es mir nicht ein. — Sie sag ten beim Abschiede zu Marie: »Wenn du uns im Herbst besu chen willst, sollst du Kartoffeln essen aus unserem Garten.« Ich lachte wieder, denn Herr Flohr hatte noch nicht mit mir da rüber gesprochen; ich wollte, ich hätte nicht gelacht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Adele Kühner (1808—1907 )Pseudonym Elisa Averdieck: Karl und Marie. Hamburg 1851

Im August ist Trina‘s Geburtstag. Karl hat sie lieb und möchte ihr so gern etwas schenken, aber er hat kein Geld und der Ge burtstag ist schon übermorgen. Marie will ihm einen Schilling schenken, aber das will er nicht. »Nein«, sagt er, »dann schen ke ich es ja nicht, dann schenkst Du es ja.« — »Dann suche Du Raupen von unserm großen Aprikosenbaum, ich helfe Dir mit; Du weißt wohl, für hundert Stück giebt uns Papa einen Schi] ling.« Der Einfall gefällt Karl. Aber nun schlafen die Raupen, er muß warten bis zum andern Morgen. Abends liegt er lange im Bett und wacht; dabei hat er immer die Finger im Munde und ächzt, als wenn er eine große Arbeit vorhätte. Trina fragt ihn, ob er Zahnweh habe. Das verneint er, liegt ein kleines Weilchen stille und dann geht das Aechzen und Arbeiten von Neuem los. Endlich tritt Martha einmal ans Bette und fragt: »Junge, was hast Du denn eigentlich vor?« — »Seh!« sagt er, »er wackelt schon, ich glaube, es geht bis morgen, wenn ich die ganze Nacht dran reiße.« — »Was reißest Du denn?« fragt Martha ganz leise, damit die andern Kinder nicht aufwachen. »Ich reiß‘ an meinem Zahn, denn wenn ich ihn herauskriege, so giebt mir Papa morgen einen Schilling. Dann kann ich Trina was zum Geburtstag schenken.« — »Ja, aber wenn Du nicht bald schläfst, dann wirst Du morgen die Zeit verschlafen, und dann kannst Du keine Ranpen absuchen.« — »Das ist wahr,« sagt Karl, »na, vielleicht fällt der Zahn morgen von selbst aus. Dann will ich nur lieber einschlafen.« Damit legt er sich auf die andere Seite und in fünf Minuten schnarcht er.

 

 

A. Cosmar: Puppe Wunderhold und ihre Freundinnen. Stuttgart 1866

Luischen hatte ein weißes Kleid an mit blauen Schleifen; ebenso ihre Puppe, die sie auf dem Arme trug. »Guten Tag!« sagte sie eintretend und machte einen tiefen Knicks. Zuerst ging sie zu der Tante, gab ihr artig die Hand und bestellte einen Gruß von ihrer Mama. Dann eilte sie schnell auf Fanny zu, und auch Elise begrüßte sie herzlich. »Hier habe ich eine große Schürze, damit ich mich nicht voll Stachelbeerflecken mache. Wer bindet sie mir um?« Elise war gleich bereit, und Fanny legte den Hut des Kindes beiseite. »So, was machen wir zuerst?« fragte die Kleine; »bis halb sie ben Uhr darf ich bleiben. Ist das nicht lange? Da können wir viel spielen und Stachelbeeren pflücken. — Wo sind die Ha sen?« rief sie und wollte zur Thüre hinaus.

»Wart nur, Kleine«, sagte die Tante, »jetzt zeig mir doch auch einmal deine Puppe, von der ich schon so viel gehört habe. —Die ist auch wirklich sehr hübsch. Wer hat ihr denn das schöne Kleid gemacht?«

»Das hat ihr das Christkind gebracht, und mir dieses. Was hat es dir — Ihnen gebracht?«

Ein schönes Buch.

»Mir auch. Meine Puppe hat es selbst geschrieben.« Die Tante lachte.

»Es ist wirklich wahr! Fragen Sie nur Fräulein Fanny. Sie weiß es ganz genau. Puppen können viel mehr, als wir denken. Bloß nicht richtig essen, glaube ich. — Aber man kann doch so spie len. Heute bekommt sie auch Stachelbeeren. — O, wo sind die Hasen?« wandte sie sich wieder an Elise.

»Geht nur auf den Hof; ich kann nicht hinauskommen. Sorge für alles, Elise; und gieb acht, daß die Kleine sich ihr Kleid chen nicht verdirbt.«

»Darf Wunderhold mit?< fragte Luise.

»Warum nicht?« entgegnete Fanny und nahm das Kind an die Hand.

Franz Pocci: Kasperl als Turner. In: Lustiges Komödienbüchlein. München 1921

 

Doktor (allein). Ei, ei, das wäre aber doch! Jetzt kurier‘ ich schon ein halbes Jahr an Herrn Kasperl, und ich kenn‘ mich eigentlich selber noch nicht aus, was ihm fehlt. So was darf sich aber ein praktischer Arzt nicht anmerken lassen, oder zu was hätt‘ ich denn erst vor zwei Monaten den Medizinalratstitel bekommen? Wir Aerzte müssen zusammenhalten, besonders wegen der Homöopathen, die aber sozusagen auch nichts wis sen; allein die möchten uns Allopathen ganz ruinieren. Aha! Da kommt er.

(Kasperl tritt ein, große Zipfelmütze auf, ungeheuer wehleidig und affektiert krank und schwach, mit schlotternden Schritten und schwacher Stimme.)

Kasperl. Guten Morgen, Herr Mudizinalrat. Kommen Sie auch wieder einmal zu einem armen kranken Mann? Geltens? Wie ich ausschau! Zum Verschrecken!

Doktor. No, no, ´s passiert, Herr Kasperl. Wie ich‘s letztemal bei Ihnen war, haben S‘ doch noch viel miserabler ausgesehn, und mit dem Piedestal — scheint mir — geht‘s doch jedenfalls besser. Sie marschieren ja ganz brav.

Kasperl. Oh, bewahr‘s Gott! Ich geh‘ auf meine letzten Füß! Doktor. Ja, weil überhaupt jeder Mensch nur zwei Füß‘ hat. Nun also: diskurieren wir ein bißl miteinand. Wie steht‘s ei gentlich mit‘m Appetit; denn das ist immer die Hauptsach‘ beim Menschen.

Kasperl. Gar nit gut. Wenn ich sechs Leberknödl in der Sup pen und acht Paar Bratwürst‘ auf‘m Kraut gessen hab‘, da is mit‘m Appetit schon vorbei.

Doktor. Nun, nun, das kann man sich immer gefallen lassen. Der Magen vertragt noch was. Denken Sie nur, daß Sie gar kei ne Motion machen, Herr Kasperl. Nun — und wie steht‘s mit dem Durst?

Kasperl. Miserabel! So a halb‘s Dutzend Liter, wie man‘s jetzt heißt — die tuen‘s noch; aber da kann ich höchstens noch a paar Mahl draufsetzen nach‘m alten Maß.

Doktor. Das ist immer noch ein ganz erträglicher Zustand und mir scheint doch, daß meine letzte Medizin gewirkt hat. Und jetzt sag‘n S‘ amal, Herr Kasperl, wie ist‘s mit‘m Schlaf? —Kasperl. Reden Sie mir nur nicht vom Schlaf! Wenn ich mich abends um a 9 Uhr niederleg‘, so wach‘ ich um 8 Uhr in der Früh schon wieder auf und nachher muß ich mich wenigstens noch dreimal umkehren, his ich noch a paar Stündl schlafen kann. Gelten‘s, Herr Mudizinairat, das kann man doch keinen g‘sunden Schlaf heißen?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ottilie Wildermuth: Bärbeles Weihnachten. In: Aus Schloß und Hütte. Stuttgart

 

Es war beinahe Abend, als endlich Frau Annemarie sich ein Herz gefaßt hatte und im allerschönsten Putz mit ihrem Bärbe le am Schloß drüben ankam; der Vater hatte sie nur bis ans Ufer begleitet. Mit Herzklopfen stiegen sie die neuen Treppen hinauf und betraten das schöne Vorzimmer, in dem sie die Kammerjungfer warten hieß. Sie durften nicht lange warten; bald kam die junge Frau Baronin selbst, die nun ohne die vie len warmen Hüllen dem Bärbele erst recht wie ein Engel vor kam. Sie bot der schüchternen Annemarie herzlich die Hand, freute sich, daß sie wieder so gesund und rüstig sei, und er zählte ihr die Ursache, warum sie so lange nicht mehr in die Gegend gekommen sei, so daß die gute Frau ganz zutraulich wurde.

»Aber ich muß anzünden!« rief plötzlich die Dame und eilte rasch davon; — nach einer Weile klang ein silbernes Glöck chen, und Bärbele und ihre Mutter wurden von der Kammerfrau in den großen Saal geführt.

Ach was für eine Herrlichkeit ging da dem armen Kinde auf! Zur anderen Türe waren all die Herren und Damen eingetre ten, aber Bärbele scheute sich nicht vor ihnen; sie meinte fast, sie sei geradeswegs in den Himmel hineingekommen, da kam es auf ein paar Engel mehr oder weniger nicht mehr an.

Der große Saal war ganz neu und prächtig gemalt, und von der Mitte der Decke hing ein kristallener Kronleuchter mit vielen hellen Kerzen, auf den Tischen unten brannten wieder viele Lichter in silbernen Leuchtern, und grüne Tannenbäume, die in der Eile noch vom Walde gebracht worden waren. Dazwi scheu stand prächtiges Zuckerwerk und reiche und zierliche Geschenke, und die Lichter und die Geschenke und all‘ das schöne neue Gerät im Saal flimmerten und funkelten zusam men, daß es Bärbele war wie im Traum und auch Frau Anne marie nichts konnte, als ihre Hände zusammenschlagen.

»Sieh, Kind, das ist deine Bescherung«, sagte die Dame vom Schloß und führte Bärbele an einen Tisch, der mit gar herrlichen Dingen besetzt war: »komm, nimm, das ist alles dein,« sagte sie ermutigend, »deine Pate ist dir ja von lange her das Weih nachtsgeschenk schuldig geblieben.« Bärbele nahte zagend mit gefalteten Händchen. Von der Mutter war sie gelehrt worden, eh‘ sie daheim ihre kleine Bescherung in Empfang nahm, vorher ein Weihnachtsverslein zu beten, darum legte sie auch jetzt die Hände zusammen und betete, was ihr eben im Anblick dieser Pracht einfiel:

»Der Sohn des Vaters Gott von Art,

Ein Gast in der Welt hie ward;

Er führt uns aus dem Jammertal

Und macht uns zu Erben in seinem Saal.«

Die Herren und Damen, die auf das Bauernmägdlein wie auf ein ergötzliches Schauspiel gesehen hatten, fühlten ihr Herz seltsam bewegt von des Kindes frommen Worten, und die Dote fürchtete fast, ob sie mit ihren reichen Geschenken nicht des Kindes einfachen Sinn verderben könnte.

 

 

 

 

Clementine Helm: Backfischchens Leiden und Freuden. Leipzig 1863

Wie schon beim Frühstück so gab es natürlich auch beim Mit tagessen gar viele Dinge, welche ich nicht nach den Regeln des Anstandes verrichtete, denn zu Haus nahm die lärmende kleine Kindergesellschaft alle Aufnierksamkeit der Eltern in Anspruch, und Erhaltung der Ruhe war das erste und einzige Erforderniß bei Tisch, alles Uebrige blieb so ziemlich dem eig nen Gutdünken überlassen.

Die Mittagsmahlzeiten im Hause der Tante vergingen in der Regel ziemlich gleichförmig, dabei aber gemüthlich und hei ter, denn die Tante würzte das Mahl durch angenehme Unter haltung, in welcher ihre Ermahnungen zur Wohlanständigkeit wie große Ausrufungszeichen die gleichmäßige Rede unter brachen.

»Bediene dich doch deiner Serviette, liebes Kind!« lautete z. B. eins der Gebote in meinem Anstandskatechismus. »Mit der Hand wischt man sich das Gesicht wohl nur da ab, wo keine Servietten wachsen!«

Das war auf deutsch bei den Bauern, ich verstand das wohl, und griff hastig nach dein bis jetzt so arg vernachlässigten We sen.

»Sieh mal, was du für ein kleiner Gourmand bist!« sagte Tante Ulrike dann wieder neckend. »Schlürfst deine Suppe mit einer Kennermiene gerade wie ein Feinschmecker seinen Wein. Ge wiß willst du heraus schmecken, wie viel Pfund Rindfleisch diese Kraftbrühe hervorbrachten. Auch hast du es dir dabei recht bequem gemacht, essen bei euch die Ellbogen auch mit? «

»O der Thorweg ist zu klein für das mächtige Fuder Heu!« lachte sie ein andermal, wenn ich so große Bissen zum Munde führte, daß ich die Mühe hatte, derselben Herr zu werden. Als ich nun gar mit diesem Vorrath zwischen den Zähnen sprechen wollte, legte die Tante energischen Widerspruch ein, denn: »mit vollem Munde redet man nicht!« Ebenso durfte ich weder die Finger auf den Teller noch das Messer in den Mund führen, worin ich ebenso regellos handelte wie mit der Placierung von Kartoffelschalen und Knochen, die es nie merken wollten, daß ihr Platz nicht auf dem Tischtuche war, sondern auf dem Tel lerrande.

»Du könntest dem armen Phylax wohl auch ein Fäserchen Fleisch gönnen, liebe Grete, und nicht selbst die Knochen so gründlich abnagen!« hieß es dann wieder, wenn ich mit ju gendlichem Appetit Hühnchen oder Tauben verzehrte, und da bei unbarmherzig alle Knochen zerbiß und benagte.

»In den Knochen sitzt das beste Mark, sagt Papa immer!« erwiederte ich eifrig; als ich jedoch eines Tages mit meinen fettglänzenden Fingern in der Welt umher fuhr, indem ich ein zierliches Hühnerkeulchen zum Munde führte, sagte die Tante lächelnd:

»Mein lieber Schatz, morgen sind wir bei Dunkers zu Tisch, wie du weißt! Sei so gut, und nimm dann kein junges Huhn zwischen die Finger; hier bei mir will ich es dir nicht wehren, ei gentlich aber löst man das Fleisch mit Messer und Gabel vom Knochen, es schickt sich nicht anders.«

 

 

 

 

 

 

 

 

Emmy v. Rhoden. Der Trotzkopf. Stuttgart 1885

Es ist in der Pension alles so furchtbar streng, man muß jede Sa che nach Vorschrift tun. Aufstehen, Frühstücken, Lernen, Essen— immer zu bestimmten Stunden. Und das ist gräßlich! Ich bin oft noch so müde des Morgens, aber ich muß heraus, wenn es sechs geschlagen hat. Ach, und wie manchmal möchte ich in den Gar ten laufen und muß auf den abscheulichen Schulbänken sitzen! Die furchtbare Schule! Ich lerne doch nichts, Herzenspa‘chen ich bin zu dumm. Nellie und die andern Mädchen wissen viel mehr, sie sind auch alle klü ger als ich. NeIlie zeichnet zu schön! Einen großen Hundekopf in Kreide hat sie jetzt fertig, als wenn er lebte, sieht er aus. Und Kla vier spielt sie, daß sie Konzerte geben könnte — und ich kann gar nichts! Wenn ich doch lieber zu Hause geblieben wäre, dann wüßte ich doch gar nicht, wie einfältig ich bin. Nellie tröstet mich oft und sagt: »Es ist kein Meister von dem Himmel gefallen, fang‘ nur an, du wirst schon lernen! « Aber ich habe angefangen und doch nichts gelernt. Ich weiß nur, daß ich sehr, sehr dumm bin. Am fürchterlichsten sind die Mittwoch Nachmittage. Da sitzen wir alle von drei bis fünf Uhr in dein Speisesaale. Die Fenster nach dem Garten sind weit offen und ich blicke sehnsüchtig hinaus. Es zuckt mir förmlich in Händen und Füßen, daß ich aufspringen möchte, um in den Garten zu eilen — ich darf es nicht, ganz still muß ich dasitzen und muß meine Sachen ausbessern, — Strümpfe stopfen und was ich sonst noch zerrissen habe, wieder flicken. Denke Dir das einmal, mein kleines Papachen! Deine arme Ilse muß solche fürchterlichen Arbeiten tun! — Und Fräulein Güssow sagt, das wär‘ notwendig, Mädchen müssen alles lernen. Sie war ganz erstaunt, daß ich nicht stricken konnte. Man kauft doch jetzt die Strümpfe, das ist ja viel netter, warum muß ich mich unnütz quälen? Es wird mir so schwer, die Maschen abzustricken, und ich mache es auch sehr schlecht.

 

Heinrich Wolgast: Das Elend unserer Jugendliteratur. Hamburg 1899

 

Über ein Jahrhundert hat nun schon das spezifische Kinder buch leere Stunden unserer Jugend mit nichtigem Inhalt ge füllt. Wenn wir nicht dazu gelangen, aus neuen sozialen Aufgaben heraus die brachliegende Zeit natur- und kulturge mäß auszunutzen, so ist jedes Wort gegen Lesewut und schäd liche Lektüre in den Wind gesprochen. Nur ein völliger Umschwung in den pädagogischen Ansichten kann ein altes, auf Schlendrian und Verwöhnung beruhendes Übel abstoßen. Wenn heute ein großer Teil der Jugend täglich zwei bis drei Stunden mit Lesen hinbringt, so wird eine Einschränkung auf wöchentlich zwei bis drei Stunden nicht zustande kommen ohne die gleichzeitige Einfügung eines völlig neuen oder bis her seitab stehenden Erziehungsmomentes. Und wenn die Ware, die bisher in tausenden von Werken den Jugendschrif tenmarkt beherrschte, die eine heiligende Tradition von hun dert Jahren für sich hat und aus unheimlich heimlichen Quellen alljährlich aufs neue eine Flut erzeugt, völlig beseitigt und durch wenige an den Fingern her zählbare Kunstwerke er setzt werden soll, so ist als Vorbedingung eine völlige Umwäl zung in der litterarischen Bildung der Massen und den litterarischen Produktions- und Distributionsverhältnissen zu bezeichnen. Aber auch umgekehrt! Ist eine solche Umwälzung, die der Natur der Sache nach nichts anderes als eine riesige Sinnesänderung des Volkes bedeutet, möglich ohne jene Re form der Lektüre unserer Jugend?

 

 

 

 

Richard und Paula Dehmel: Fitzebutze. Allerhand Schnickschnack für Kinder. Berlin-Leipzig 1900

 

Der kleine Sünder

 

Gestern lief der Peter weg,

spinnefix verstohlen.

Setzt sich Mutter den Bänderbut auf:

wart, ich will dich holen!

Sausepeter,

Flausepeter,

kleiner Sünder, wo bist du?

 

Hahnematz steht auf der Wiese,

»kiek ins Grüne!« kräht er;

sag mir, bunter Kickeriki,

wo ist unser Peter?

Bummelpeter,

Schummelpeter,

kleiner Sünder, wo bist du?

 

Wie sie sich im Garten umkuckt,

ist er nicht zu sehen;

bleibt sie neben dem Spargelbett

unterm Pflaumbaum stehen.

Aber Peter,

nirgends steht er;

kleiner Sünder, wo bist du?

 

Hört sie etwas lachen, horch,

oben aus dem Baume,

sitzt der Peter seelenvergnügt,

pflückt sich eine Pflaume.

Wirft ein Steinchen,

schwenkt die Beinchen,

wupptich —: Mutter, da bin ich!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Joachim Ringelnatz: Geheimes Kinder-Spiel-Buch. Potsdam 1924

Übergewicht

 

 

Es stand nach einem Schiffsuntergange

 

Eine Briefwaage auf dem Meeresgrund.

 

Ein Walfisch betrachtete sie bange,

 

Beroch sie dann lange,

 

Hielt sie für ungesund,

 

Ließ alle Achtung und Luft aus dem Leibe,

 

Senkte sich auf die Wiegescheibe

 

Und sah — nach unten schielend — verwundert:

 

Die Waage zeigte über Hundert.

 

 

Agnes Sapper: Die Familie Pfäffling. Hannover 1907

 

Das ging so zu: Beim Heimweg von der Schule an einer Stra ßenecke, wo einige Lateinschüler mit Realschülern zusam mentrafen, gab es ein hitziges Schneeballgefecht. Wilhelm Pfäffling war auch dabei. Einer der Realschüler hatte ihn und seine Kameraden schon mehrfach getroffen, indem er sich hin ter der Straßenecke verbarg, dann rasch hervortrat, seinen Wurf tat und wieder hinter dem Eckhaus verschwand, ehe die andern ihm heimgeben konnten. Nun aber wollten sie ihn aufs Korn nehmen. Es waren ihm einige tüchtige Schneeballen zu gedacht, wurfbereit warteten sie gespannt, bis er sich wieder blicken ließe. Jetzt wurde eine Gestalt sichtbar, die Ballen sausten auf sie zu. Aber es war nicht der Realschüler gewesen, sondern ein gesetzter Herr. Zwei Schneeballen flogen dicht an seinem Kopf vorüber, zwei trafen ihn ganz gleichmäßig auf die rechte und linke Achsel. Und das war nicht der richtige Platz für den Schnee!

Herr Sekretär Floßmann, der so ahnungslos um die Ecke gebo gen war und so schlecht empfangen wurde, stand still, warf böse Blicke und kräftige Worte nach den Jungen. Daß sie ihn getroffen hatten, war ja nur aus Ungeschick geschehen, daß nun aber einige laut darüber lachten und dicht an ihm vorbei weiterwarfen, das war Frechheit.

Zu den Ungeschickten hatte auch Wilhelm gehört, zu den Fre chen nicht. Nach Pfäfflingscher Art ging er zu dem Herrn, ent schuldigte sich und erklärte das Versehen, half auch noch die Spuren des Schnees abschütteln. Der Herr schien die Ent schuldigung gelten zu lassen, und Wilhelm ging nun seines Weges nach Hause. Er sah nicht mehr, daß Herr Sekretär Floßmann, als er ein paar Häuser weit gegangen war, einem Schutzmann begegnete, sich bei ihm beschwerte und verlang te, er solle die Burschen aufschreiben und bei der Polizei an zeigen.

 

 

 

 

 

Josephine Siebe: Oberheudorfer Buben- und Mädelgeschichten. Stuttgart 1908

 

Oberheudorf wo es liegt und wie es darin aussieht

 

An einem Frühlingstage kamen drei junge Männer auf ihrer Wanderung durch das deutsche Land nach Oberheudorf, das zwischen Gebirg und Ebene liegt. Als sie in das Dorf einzogen, lief ihnen unversehens ein Schweinchen in den Weg. Da rief der erste, der sich leicht über jeden Quark ärgerte: »Pfui, ist das ein abscheuliches, schmutziges Dorf! Hier laufen ja die Schweine auf der Straße herum! Und was für häßliche, baufäl lige Häuser das Dorf hat!« Er sah dabei immer nur des Schnip felbauers alten Ziegenstall an, die andern Häuser würdigte er keines Blickes. Schnurstracks eilte er von dannen, und in sein Reisebuch schrieb er: »Oberheudorf ist klein, schmutzig und häßlich.«

Der zweite, der zu denen gehörte, die alles besser haben wol len, sah, als er durch das Dorf ging, immer in die Luft und rief:

»Wie niedrig die Berge sind! Und wie weit der Wald entfernt ist! Auf einem der Berge müßte eine Burg stehen. Der Bach müßte breiter sein und brausend bergab stürzen. Ja, dann möchte mir das Dorf gefallen!«

Flugs lief auch er von dannen, und in sein Reisebuch schrieb er: »Es lohnt sich nicht, Oberheudorf anzusehen, es hat keine schöne Lage.«

Der dritte der jungen Leute aber blieb mitten im Dorf stehen und schaute sich um. Er sah die blühenden Fliederbüsche in des Schnipfelbauers Garten und übersah darüber den baufälli gen Ziegenstall. Er sah die kleine weiße Kirche, deren spitzes Türmchen sich scharf von dem lichten Frühlingshimmel ab hob. Er sah die roten Ziegeldächer der Bauernhäuser in der Sonne leuchten und sah, wie liebevoll der große Apfelbaum seine blüteuschweren Zweige über Muhme Lenelies‘ Häus chen breitete. Wohl waren die Berge nicht allzu hoch, aber schöner, dichter Tannen- und Laubwald bedeckte sie, auf dessen Boden weiche Moosteppiche lagen und zarte, helle Blumen blühten. Wohl war das Bächlein schmal, aber es plätscherte und brauste vergnügt durch das grüne Wiesental und sah aus wie ein aus Silberfäden gesponnenes Gürtelband.

 

Wilhelm Scharrelmann: Piddl Hundertmark. Berlin 1912

 

Piddl Hundertmark hieß er. Gewiß, sein Vorname paßte ge nau, aber die hundert Mark in seinem Namen waren der reinste Hohn. Es wäre ihm nicht ein roter Heller aus den Taschen ge fallen, wenn man ihn auf den Kopf gestellt und ausgeschüttelt hätte wie ein leeres Portemonnaie. Dabei sah er aus, als wenn ihn der liebe Herrgott in einer langweiligen Stunde aus einem alten Stück Holz geschnitzt hätte, um auch einmal ein Vergnü gen und etwas zum Lachen zu haben. Der dicke Kopf mit den kleinen Augen und den großen Ohren, den borstigen Haaren und abgezehrten Wangen war das Auffälligste an ihm. Die kleinen Beine steckten in ganz unmöglichen Hosen. Man wuß te nie, was man mehr anstaunen sollte, Piddl oder seine Hosen. Sie waren tütenförmig und oben von einer so unnatürlichen Weite, daß man fürchten mußte, der kleine Knirps werde ret tungslos in dem gewaltigen Hosenboden versinken. Seine Mut ter hatte sie abends nach der Arbeit beim Schein der trüben, kleinen Petroleumlampe zusammengenäht, und es war mehr guter Wille als Geschicklichkeit an ihnen zu erkennen. Aber Piddl war stolz auf sie, und er tat nichts lieber, als die Hände in die Taschen zu vergraben und mit unbewegter Gelassenheit den Spielen der Kinder auf der Straße zuzusehen. Kein Spott wort rührte ihn so leicht, und nur, wenn es gar zu arg wurde, drehte er sich um und ging ohne ein Wort, mit langsamen, abgemessenen Schritten ins Haus. Und wenn er dann wohl auch heimlich die Zähne zusammenbiß und sich die kleinen Augen mit Tränen füllten, so sah ihn doch niemand jemals weinen, so oft ihn auch die Kameraden an den Haaren zupften oder mit dem Ellbogen in die Seite stießen. Er ging dann in den dunk len, kahlen Kellerflur, der öde und schmutzig war und an dem das Zimmer seiner Mutter lag. An solchen Tagen kam er mei stens erst des Abends wieder zum Vorschein, wenn die Gasse still geworden war. Dann schlich er an den Häusern entlang bis zur nächsten Straßenecke und stand unbeweglich unter der Gaslaterne, die dort brannte, und wartete auf seine Mutter, die tagsüber bei feinen Leuten die Wäsche besorgte und zuweilen erst spät des Abends heimkehrte. Er stand dann da, unbeweg lich wie ein kleiner Gnom, der sich in die Stadt verirrt hat und nun mit großen, verwunderten Augen die Häuser und die Vor übergehenden mustert.

 

A. Th. Sonnleitner: Die Höhlenkinder im Pfahlbau. Stuttgart 1920

Es war noch früh am Morgen, und Peter drängte zum Beginn des Pfahlbaues, mit dem er noch am selben Tag fertig zu werden meinte. Als er aber von der Triftleiten auf die Fläche des Moorsees niedersah und mit Eva nach geeigneten Bäumen suchte, bot sich in der Entfernung der Birken vom Ufer schon eine Schwierig keit, die Zeitverlust bedeutete. In der Richtung des Moorbaches, eine Pfeilschußweite vom riedgrasbewachsenen Rand des schwingenden Bodens, der die Uferböschung säumte, standen vier und weiter oben fünf Birken im freien Wasser nahe genug beisammen. Peter entschied, daß die fünf Bäume Evas Hütte mit der Feuerstelle tragen sollten; die vier anderen, welche so nahe beisammenstanden, daß zwischen ihnen gerade für ein Lager reichlich Platz war, sprach er sich zu. Als er daran ging, seinen Fahrbaum über den schwankenden Moorboden hinweg ins offene Wasser des Moorsees zu schleifen, brach er nach wenigen Schrit ten bis zu den Knien durch die schwimmende Torfschicht ein und mußte sich auf den Fahrbaum retten. Er sah sich genötigt, erst

durch Auflegen von quergeschichteten Traghölzern und Jungstämmen den Sumpfboden zu überbrücken. Mit Evas Hilfe schleppte er den Fahrbaum über den schwingenden Moorsteg ins klare Wasser. Da er aber nicht nur selbst zu den Pfahlbäumen hinübergelangen, sondern alles zum Baue Nötige hinschaffen mußte, entschloß er sich, durch beiderseitiges Anbringen von Stämmen den Fahrbaum zu einer Art fahrbaren Steges, zu einem Floß zu verbreitern. Mit starken Waldrebenranken verband er ei nige Bäume und belud sie mit Bauholz und Bindzeug. Die Abstoßstangen erwiesen sich bei der Tiefe des Wassers als zu kurz. Da versuchte Peter in liegender Stellung das Fahrzeug mit den Händen zu rudern. Es rührte sich kaum von der Stelle, aber es be wegte sich doch. Um die wenig ausgiebige Hand durch etwas Breiteres zu ersetzen, holte er ein Schulterblatt des im Vorjahr ge fundenen Hirsches, das schon in der Höhlenzeit ihm als Schneeschaufel gedient hatte, aus seinem Zelt.

 

 

 

 

 

 

Tony Schumacher: Mütterchens Hilfstruppen. Stuttgart 1909

Als die Mutter am andern Morgen in die Wohnstube trat — sie war gewöhnlich die erste im Hause — da lag schon das Tuch auf dem Frühstückstisch. Erstaunt blickte sie um sich und sah Karl, welcher auf dem Boden vor dem Buffet kniete und Ausle se unter den Tassen hielt.

»Was tust du denn hier?«

»O Mütterchen, kannst du mich denn sehen?« rief er fast er schrocken. »Ich hab‘s ja gesagt, ich wolle in Zukunft den Frühstückstisch richten, aber nun kenne ich doch nicht so recht die Tassen auseinander, und das dumme Tuch bringe ich auch nicht gerade hin. Allemal ist wieder ein Zipfel länger als der andere.«

»Ich will dir‘s zeigen«, sagte die Mutter, hocherfreut über den Eifer ihres Sohnes. »Siehst du, ein jedes Tuch, das gedeckt wird, hat in der Mitte einen Bug, der vom Bügeln herrührt. Den legst du genau der Länge nach auf den Tisch, faltest dann das Tuch nach beiden Seiten hin auseinander und ziehst dann oben und unten, bis es gleich wird. Die Serviette legst du schön in die Mitte übers Kreuz — siehst du, so! — und stellst dann da rauf dies kleine Brettchen mit Zuckerdose und Rahmkanne. Die erstere muß aber jeden Tag aufgefüllt werden, denn es sieht schlecht aus, wenn wenig Stücke darin sind. — Dann kom men die Tassen. Du weißt ja, daß ein jedes seine eigene besitzt und sein Löffelchen, das auf die Untertasse gelegt wird. Den Zwillingen vergiß nicht, ihre Wachstuchdeckchen zu geben, denn sie schütten noch gern um.«

»Darf ich nun um Geld bitten, damit ich zum Bäcker gehen kann?« fragte Karl und nahm etwas zögernd das Körbchen in die Hand, das zu diesem Zwecke gebraucht wurde. Eigentlich war es ihm peinlich, den Korb zu tragen, aber er hoffte darauf, keinem seiner Freunde zu begegnen. »Also zwölf Semmeln und ein großes Brot?« fragte er nochmals im Hinausgehen.

»Laß dir noch geschwind etwas sagen, Karl,« rief ihm die Mutter nach, und er kehrte die zwei Schritte wieder um. »Wenn du zum Bäcker gehst, um einzukaufen, so sieh dir die Ware vorher recht genau an, ehe du sie auswählst. Nimm kein zu blasses Gebäck, es ist nicht ganz ausgebacken und deshalb ungesund; nimm aber auch kein zu dunkles, denn dann ist es verbrannt und hart, und Muttings und Tantchens Zähne sind leider nicht mehr so gut wie die euern! Aber gestatte dir ja nie, wie so man che Leute es tun, daß du das Backwerk vorher anrührst oder gar mit den Händen krachen läßt. Das ist eine abscheuliche Unsitte, und es ist ekelhaft zu denken, mit was für Händen die Semmel etwa schon in Berührung gekommen ist.«

 

 

Fritz Steuben: Der fliegende Pfeil. Stuttgart 1930

Morgen für Morgen zogen nun die Jäger hinaus, und Abend für Abend brachten die Packpferde ungeheure Mengen von Fleisch und Fellen in das Lager zurück. So aufregend die Jagd selbst war, so anstrengend und mühsam war die Verarbeitung der Beute.

In der Zeit der Herbstjagden waren die Lager- und Jagdgesetze besonders streng; sehr hohe Strafen erwarteten den, der ohne Erlaubnis des Stammes auf eigene Faust auf die Jagd ging, er hätte ja die Herden vertreiben können.

Sobald die ausgesandten Späher Büffel meldeten, war es die erste Sorge, »unter den Wind« zu kommen; wenn dann die Herde gesichtet wurde, so kam es ganz auf das Gelände an, wie die Jäger vorgingen. War die Herde sehr groß, so versuchten sie durch wildes Geschrei, tollkühnes Hineinreiten in die Her den, durch Schwenken von Lanzen und Häuten, einen Teil da von abzusprengen, was diesen erfahrenen Jägern stets ohne besondere Schwierigkeiten gelang. Kleinere Herden, die sich beim Anblick der Jäger stets sofort eng zusammenschlossen, griffen die Indianer meistens nur mit einem Teil ihrer Mann schaft an, jagten sie über die Prärie, dann brachen von der Sei te oder von vorne andere Jäger auf die Herde ein, von der dann ein Teil zu fliehen pflegte, während ein anderer sich gegen die Jäger kehrte, ein dritter wohl gar unbekümmert um die Gefahr weiter über die Ebene stürmte. Ganz besonders beliebt war das Hineintreiben kleinerer Herden in Seitenschluchten oder enge Täler, in denen sie dann mühelos erlegt werden konnten.

Die Shawanos bewaffneten sich für diese Jagden mit Lanzen und mit Pfeil und Bogen. Büchsen gab es zu jener Zeit unter den Indianern noch so gut wie gar nicht, und wo ein Krieger wirklich im Besitz eines Rifle war, zog er es bei den Büffeljag den meistens vor, den Bogen zu benützen. Diese kleine und unscheinbare Waffe hatte in der Hand der Roten eine furcht bare Gewalt.

 

Wolf Durian: Kai aus der Kiste. Berlin 1927

Wie der Wind liefen die Jungen auf und davon. Die Torbogen und Gänge zwischen den Häusern verschluckten sie, sie klet terten über Kistenstapel und Zäune, sie zerrissen sich die Ho sen an Stacheldrähten. Sie pfiffen in allen Hinterhöfen und in allen Treppenhäusern das Signal der großen Klapperschlange. Alle Hunde bellten, und alle Erwachsenen schimpften.

Türen knallten zu. Wie viele Nachtessen wurden kalt an die sem Abend! Die Zeitungsjungen ließen ihre Zeitungen im Stich, die Schusterjungen liefen ihrem Meister davon. Zwei Jungen wurden eingesperrt, da stiegen sie durchs Fenster und rutschten am Blitzableiter hinunter.

»Die Schwarze Hand versammelt sich um zehn Uhr!« hieß es überall. Aus zwanzig Jungen wurden fünfzig, hundert. In allen Straßen rannten sie. Viele Roller ratterten über die Pflaster. Im Untergrundbahnhof am Alexanderplatz stürmte eine ganze Bande durch die Sperre und in den Zug, der gerade abfuhr. Der Kontrolleur schloß die Sperre und lief ihnen nach. Aber es war zu spät; rubinrot funkelte die Schlußlampe des Zuges aus der Tunnelfinsternis, und der Beamte mußte zurück, denn die Er wachsenen hinter der Sperre schimpften, weil sie nicht auf den Bahnsteig konnten.

 

Werner Bergengruen: Zwieselchen. Stuttgart u. a. 1938

Weil der Onkel Sebastian dagewesen war, der das Zwieselehen damals in den Zoologischen Garten mitgenommen hatte, so dachte das Zwieselchen jetzt wieder viel an den Zoo und mein te, es würde noch mehr Spaß am Garten haben, wenn der Gar ten ein bißchen so ähnlich wäre wie der Zoologische Garten. Aber es gab nur ganz kleine Tiere, Schmetterlinge und Marien käfer und Regenwürmer und Fliegen, und mit denen kann man doch keinen richtigen Zoo machen. Darum ging das Zwiesel ehen zu seinem Vater und sagte: »Wir wollen uns doch einmal ein richtiges großes Tier für unsern Garten kaufen! Einen Lö wen oder einen Tiger.«

Der Vater dachte einen Augenblick nach und sagte dann: »Ja, dazu hätte ich auch Lust. Aber ich glaube, es wird doch nicht gehen. Denn so ein Löwe oder Tiger zerkratzt einem die ganzen Erdbeerbeete. Ein bekannter Löwe von mir, der bei meinem Freunde Kanditenschlecker im Garten wohnte, hat auch im mer alle Beete zerkratzt, und der arme Kanditenschlecker hat keine einzige Erdbeere zu essen gekriegt.«

»Aber wir können ja den Löwen in einen Gartenkäfig tun«, meinte das Zwieselchen.

»Das ist richtig!« rief der Vater ganz froh. »Das ist ein sehr gu ter Gedanke! Aber da fällt mir leider etwas anderes ein. Näm lich, wie sollen wir ihn füttern? So viel Fleisch, wie ein Löwe frißt, können wir nicht kaufen.« Das tat dem Zwieselehen recht leid. Aber es mußte wohl so sein, wie der Vater sagte.

Plötzlich schrie das Zwieselchen: »Hurra! Jetzt habe ich es:

eine Giraffe wollen wir kaufen. Die wird nämlich überhaupt nicht gefüttert. Am Giraffenhaus im Zoo hängt eine bedruckte Tafel, und ich habe den Onkel Sebastian gebeten, sie mir vor zulesen, und da stand drauf: Füttern strengstens verboten.«

 

 

Wilhelm Matthießen: Das rote U. Köln 1932

Und nun hatte das Rote U sie gerade in diese unheimliche Villa Jück bestellt! Freilich, immer hatten sie schon einmal vorgehabt, dort einzusteigen. Denn so etwas Gruseliges wie dies alte Haus gab‘s in der ganzen Stadt nicht mehr! Aber damals hatte die Poli zei neue Schlösser an alle Türen und eiserne Stäbe vor die Fenster machen lassen. Und Boddas und Mala hatten schon hundertmal um das Haus geschnüffelt, aber nie ein Loch gefunden, durch das sie hätten hineinschlüpfen können. Vielleicht ließ sich etwas von der Hofseite her machen? Das wollten sie heute versuchen. Wenn das Rote U hineinkonnte, dann konnten sie‘s doch hundertmal! »Jetzt sind wir bei 87«, sagte Boddas, und wirklich, kaum hatte er´s ausgesprochen, da lösten sich von dem dunklen Steingelän der zwei Gestalten.

»Losung?« rief ihnen Boddas mit unterdrückter Stimme entgegen. »Schatten an der Kirchhofsmauer«, klang es zurück.

Dies Erkennungswort hatten sie am Morgen ausgemacht. Es waren also Knöres und Döll.

>Wir wollen ganz langsam weitergehen«, zischelte Döll, »habt ihr den Schutzmann gesehen? «

 

Kurt Held: Die rote Zora und ihre Bande. Sauerländer 1941

 

Sie krochen, kletterten, stiegen und schlichen diesmal langsa mer vorwärts, aber sie mußten noch beinahe über ein halbes Dutzend Zäune, Mauern und Hecken, kamen an einem Spring brunnen vorbei, an schönen Aprikosenbäumen, an einem gan zen Blumenhain. Branko sah Sonnenblumen, Lilien, Klatschmohn, Rittersporn, Rosen und war erstaunt, wie abge schlossen und schön es auf der anderen Seite der Mauern war, die er noch nie gesehen hatte, denn er hatte mit seinen Kame raden immer nur in Höfen und Kellern oder unten am Meer ge spielt.

Sie sahen fast niemanden. Einmal eine alte Frau, die Unkraut jätete, eine Katze, einen alten Mann, der in der Sonne saß und kaum aufblickte, als sie vorüberrannten, und einen asthmati schen Hund, der aber zu dick war, um sie einzuholen. Im gleichen Augenblick krochen sie auch durch die letzte Hecke und befanden sich zwischen Schlehenbüschen, Brombeer- und Himbeergewirr und Ginster.

Ja, hinter der letzten Mauer war die Schönheit, Abgeschlossen heit und Gepflegtheit der Gärten wie weggewischt. Es begann eine heiße, erst noch dichte, aber dann immer dürftigere Wildnis.

Die Kinder gingen einige Meter in dem Bachbett des Potoc und bestiegen dann eine Höhe. Die Hitze war hier beinahe uner träglich. Die Hecken fielen zu winzigen Sträuchern zusammen. Immer mehr kam der Stein und Fels durch. Sie sahen auch kei ne Blumen und kaum einen Grashalm mehr.

Hinter dem Hügel, wo es etwas schattiger war, begann das Brombeergebüsch, von dem Zora gesprochen hatte. Es zog sich die ganze Hinterseite des Hügels hinab und reichte bis hinun ter ans Meer.

»Da drin kommen wir hie und da zusammen.« Zora zeigte auf die Mauer von Dornen und Ranken.

Branko stotterte nur: »Da drin?« Die Hecke schien ihm so un durchdringlich, die Ranken so fest und stachlig, daß er das Gefühl hatte, nicht einmal ein Hund oder sonst ein Tier könnte hineinkommen.

»Es darf eigentlich keiner, der nicht in der Bande ist, mit hin eingenommen werden«, sagte Zora weiter, »aber du darfst hin ein. Es ist ja meine Bande, also komm.><

Sie bückte sich, zog einige Ranken, die fest in der Erde steckten, heraus und legte sie neben sich. Langsam wurde ein Gang frei. »Kriech hinein!« Sie zeigte auf das Loch.

 

Lisa Tetzner: Die Kinder auf der Insel. Sauerländer 1944

»Er hat sein Leben für Ruth hingegeben><, fuhr Hans fort.

Da schwiegen sie alle und schauten nur um so zärtlicher auf ihn nieder, denn jeder fühlte, daß es etwas Größeres nicht geben kann.

Pascal kam, die Schaufel über der Schulter, aus dem Wald zu rück. Er hatte dort an einer stillen, freien Stelle ein kleines Grab gegraben. Es war dieselbe Stelle, an der Bartel, von Reue und Verzweiflung gepackt, niedergesunken war und sich zum erstenmal die Flügel gewünscht hatte.

Sie hoben ihn auf und trugen ihn behutsam, um ihm nicht weh zu tun, dorthin. Das junge und das alte Guanaco folgten neu gierig. Den Papagei trug Gerti auf der Schulter. Er sollte auch mit. Cornelia nahm ihre Katze auf den Arm, Mirjam trug Ruth. Sie ging mit ihr dicht hinter Bartel als erste, Lukas, auf seine zwei Krücken gestützt, als letzter. Sie gingen einzeln, und es sah wie ein richtiger langer Leichenzug aus. Jedes trug rote Blüten, Ranken und Zweige in der Hand.

Pascal hatte das ganze Grab mit Palmenzweigen ausgelegt. Weil sie keinen Sarg, auch keine Decke und nicht einmal ein Leintuch hatten, um ihn darin einzuhüllen, hüllten sie ihn in Blüten und Blätter. Sie vergaßen, ein Lied zu singen, wie es da mals auf dem Schiff geschehen war, als Ruths Mutter starb. Sie dachten nicht an Musik und Gesang und vermißten keine Pre digt und kein Gebet, denn ihre Herzen beteten im stillen.

Mirjam sagte unaufhörlich so leise, damit keiner es hörte:

»Lieber, guter Bartel, ich danke dir. Lieber, guter Bartel, ich danke dir.«

Dann beugte sie sich zu Ruth und flüsterte: »Sag: ade, Bartel!< »Dada, Bartel<, wiederholte die Kleine und warf eifrig Blumen auf ihn.

Jeder sagte etwas anderes in seinem Herzen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Ursula Wölfel: Feuerschuh und Windsandale. Stuttgart u. a.: K. Thienemanns 1961 (1962:

Deutscher Jugendbuchpreis)

 

Der Junge hieß Tim. Er war fast sieben Jahre alt.

 

Manchmal war er traurig. Er war nämlich ein besonders dicker Junge, der allerdickste in der ganzen Klasse. Und besonders klein war er auch, der allerkleinste in der ganzen Schule! Die anderen Kinder nannten ihn meistens »Möpschen« oder »Dicker><. Das meinten sie nicht böse. Aber Tim wurde oft sehr wütend darüber. Er schrie:

 

»Ihr häßlichen langen Bohnenstangen! Ihr dürren Klapperge stelle! Ihr Zaunlatten!

 

 

Otfried Preußler: Der kleine Wassermann. Stuttgart u. a.: Thienemanns 1956

 

Der Moormann aber griff insgeheim in die Tasche und zog sei ne Flöte hervor. Und zuletzt, als die Reihe an ihm war, da sagte er: »Junge, ein fröhliches Herz sollst du haben!« Dann spitzte er flugs die Lippen und setzte die Flöte an.

 

Hei, wie (ler Moormann dem kleinen Wassermann aufspielte! Lustig war das zu hören — und lustig zu sehen! Aus jedem Flö tenloch, das er aufdeckte, stieg nämlich immer zugleich mit den Tönen ein dünner bräunlicher Wasserfaden empor. Und weil sich der Moormann beim Spielen verneigte und wiegte und drehte, wehten die Fäden wie eine Schleppe der Flöte nach — und es schien, daß sie tanzten.

 

Da nahmen sich die dreizehn Wassermänner an den Fäden ein Beispiel und tanzten mit ihren Wassermannfrauen gleich mit. Und der Brunnenmann mit dem weißen Bart und das Brücken weiblein von der Sankt-Nepomuks-Brücke faßten sich eben falls bei den Händen und drehten sich auch mit im Kreise. Doch plötzlich blieben sie alle stehen, wie angewurzelt, und staunten.

 

Sie staunten den kleinen Wassermann an.

 

Der war aus dem Binsenkörbchen herausgekrabbelt und schwamm nun, mit Armen und Beinen rudernd, wohlgemut um den Moormann herum.

 

>Ist das möglich?«, fragte der Wassermannvater verwundert. »Der Hemdenmatz schwimmt schon?«

 

»Du siehst es ja«, sagte der Brunnenrnann ieise und strich sich den weißen Bart.

        

 

 

 

 

 

 

James Krüss: Starenlied. In: Der wohltemperierte Leierkasten. Gütersloh u. a.: Bertelsmann 1961

 

 

Die Stare kommen wieder

Von Süden übers Meer

Mit blitzendem Gefieder,

Und keiner weiß, woher.

 

Verbrachten sie den Winter

Wohl an der Adria?

Oder weit, weit dahinter

Im heißen Afrika?

 

Ich kann euch nicht verraten,

Wohin die Sterne ziehn.

Vielleicht in die Karpaten,

Vielleicht nur bis Turin.

 

Die Stare sind inzwischen

Zurückgekehrt nach Haus.

In Bäumen und in Büschen,

Da schwatzen sie sich aus.

 

Und wer von euch, ihr Kinder,

Das Starenlied versteht,

Der hört, wohin im Winter

Die Starenreise geht!

 

 

 

Josef Guggenmoos: Hummel, gib acht! In: Was denkt die Maus am Donnerstag?Weinheim u. Basel: Beltz Verlag

 

 

Hummel, gib acht!

die Spinne hat ein Netz gemacht.

An Engelwurz und Baldrian

knüpfte sie es voll Arglist an.

Sie hat es gesponnen aus Seide fein,

um dich zu kriegen.

Sie will dich fesseln an deinem Bein

und verschnabulieren.

Es geht um dein Leben.

 

Drum,

dicke Hummel, flieg mit Gebrumm

weit, weit, weit um das Netz herum.

 

Sei klug!

Es ist auch daneben

für dich Hummel-Brummel noch Platz genug.

 

 

 

Hans Baumann: Der Sohn des Kolumbus. Bayreuth: Loewes 1983

Die Textprobe aus Der Sohn des Columbus zeigt den Moment, wie sich Fernan, der 13-jährige Sohn des Kolumbus, heimlich aus der Klosterschule davonstiehlt, um seinen Vater auf dessen vierter Entdeckungsreise zu beglei ten:

 

 

Mit bloßen Füßen schlich Fernan aus dem Schlafsaal, die San dalen in der Hand. Er hatte eine günstige Stelle erkundet: Aus dem Sakristeifenster springen — das war das einfachste.

Zuvor stieg er noch einmal zum Dachboden hinauf. Fernan brauchte kein Licht. Er rollte die beiden Karten ineinander. Dann tastete er die Gegenstände ab, die sein Vater aus der Neuen Welt mitgebracht hatte. Er ließ alles liegen. Bald würde er sich selbst solche Dinge holen.

Die Sarazenenklinge nahm er an sich.

 

 

Hans Georg Noack: Rolltreppe abwärts. Würzburg 1970

 

Es war Jochen nicht schwergefallen, seine Heimatstadt zu er reichen. Per Anhalter reist es sich leicht.

Die Nacht hatte er im Kiosk im Sportstadion verbracht. Es war jetzt nicht mehr kalt, und man konnte es dort aushalten. Jetzt stand er in einem Hauseingang gegenüber dem Lebensmittel geschäft Albert Möller und war sicher, daß man ihn von dort aus nicht sehen konnte. Um acht Uhr öffnete Herr Möller sei nen Laden. Gleich darauf trat die Mutter vor die Schaufenster, stellte ein paar Auslagekörbe ab, verschwand wie(ler. Die ersten Kunden kamen.

»Das wär´s«, sagte Jochen und sprang aus seinem Versteck, lief die Straße hinunter und war gleich darauf um die nächste Ecke verschwunden.

Das Warenhaus hatte auch schon geöffnet. Zu dieser frühen Stunde kauften vor allem Hausfrauen ein. Die Rolltreppe war noch nicht sehr belebt. Jochen fuhr ein paarmal auf und ab, be gegnete auch dem Angestellten, der ihn damals festgehalten hatte, und nickte ihm freundlich lächelnd zu. Der Mann nickte zurück, doch er schien sich nicht an Jochen zu erinnern. Jun gen, die bei Warenhausdiebstählen erwischt werden, sind Routinefälle, die man bald wieder vergißt.

An der Schallplattenbar war Jochen der einzige Hörer. Erst nach ein paar Plattenlängen stand er wieder auf und schlen derte weiter.

Er hatte noch keinen Plan. Zur Mutter wollte er nicht. Sie brachte ihn doch gewiß nur ins Heim zurück. Aber ihn sollte das Heim nicht wiederbekommen.

Es hatte gar keinen Zweck, sich Illusionen zu machen. Diese Flucht war so wenig durchzuhalten wie die erste. Man konnte nicht ewig in Sportstadien nächtigen und von gelegentlich ge stohlenen Äpfeln leben. Aber man konnte auch nicht jedesmal zur Polizei gehen und sagen: Bringen Sie mich ins Heim zu rück.

 

Christine Nöstlinger: Die feuerrote Friederike. Wien: Dachs Verlag 1970

Der Annatante und der Katze kam Friederike wie ein ganz nor males Kind vor. Alle anderen Leute aber lachten, wenn sie Friederike sahen. Besonders die Kinder.

Die riefen: »Da kommt die feuerrote Friederike!

Feuer, Feuer! Auf der ihrem Kopf brennt‘s!

Achtung, die Rote kommt!«

Wenn Friederike ihre Haare unter einem Hut versteckte, nütz te das auch nichts. Sie hatte es schon ausprobiert. Ein paar Au genblicke waren die Kinder still, aber dann lief ihr der kleine Wilhelm nach und schrie:

»Das gilt nicht! Das gilt nicht!«

Dann riß er ihr den Hut vom Kopf. Da lachten die anderen Km der, und alle schrien: »Das gilt nicht! Das gilt nicht! Bäähhh! Bääääääääaaaaaaaaaääääääähhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh!

Manche Kinder stellten sich sogar vor Friederikes Haus auf und warteten, bis sie einkaufen ging. Dann liefen sie hinter ihr her und zupften sie an den Haaren. Manche Kinder rissen sie ganz fest. Das fanden die Kinder ungeheuer lustig. Friederike hatte schon oft versucht, ihre roten Haare loszuwerden.

 

 

Mirjam Pressler: Bitterschokolade. Weiheim und Basel: Beltz Verlag 1980

 

Eva stand vor dem Schaufenster des Feinkostladens Schnei der. Sie hatte sich dicht an die Schaufensterscheibe gestellt, damit sie ihr Bild im Glas nicht sehen mußte, eine verzerrte, verschwommene Eva. Sie wollte das nicht sehen. Sie wußte auch so, daß sie zu fett war. Jeden Tag, fünfmal in der Woche, konnte sie sich mit anderen vergleichen. Fünf Vormittage, an denen sie gezwungen war zuzuschauen, wie die anderen in ih ren engen Jeans herumliefen. Nur sie war so fett. Sie war so fett, daß keiner sie anschauen mochte. Als sie elf oder zwölf Jahre alt gewesen war, hatte es damit angefangen, daß sie im mer Hunger hatte und nie satt wurde. Und jetzt, mit fünfzehn, wog sie einhundertvierunddreißig Pfund. Siebenundsechzig Kilo, und sie war nicht besonders groß.

Und auch jetzt hatte sie Hunger, immer hatte sie nach der Schule Hunger. Mechanisch zählte sie die Geldstücke in ihrem Portemonnaie. Vier Mark fünfundachtzig hatte sie noch. Der Heringssalat kostete zwei Mark hundert Gramm. Im Laden war es kühl nach der sengenden Hitze draußen. Bei dem Geruch nach Essen wurde ihr fast schwindelig vor Hunger.

 

 

 

Gudrun Pausewang: Die Wolke. Ravensburger Buchverlag 1987

 

An diesem Freitagmorgen wehte eine starke Brise. Wenn Jan na-Berta aus dein Fenster schaute, sah sie die jungen Birken blätter in der Sonne glitzern. Die Schatten der Zweige zitterten auf dein Asphalt des Schulhofs. Über die Pavillondächer schneite es Kirschblütenblätter. Der Himmel war tiefblau. Nur vereinzelte Wolken, weiß und leicht wie Watte, trieben über ihn hin. Für einen Maimorgen war es außergewöhnlich warm.

Die Sicht war klar.

Plötzlich heulte die Sirene. Herr Benzig brach seinen Kom mentar zur neuen Französisch-Lektion mitten im Satz ab und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Neun vor elf«, sagte er. »Komische Zeit für einen Probealarm. Es stand auch nichts davon in der Zeitung.«

»Das ist ABC-Alarm!« rief Elmar, der Klassenbeste. »Wahrscheinlich stand‘s doch wo, und ich hab‘s nur überse hen«, sagte Herr Benzig. »Machen wir weiter.«

Aber kaum hatte er sich wieder in die Lektion vertieft, knackte es im Lautsprecher. Alle blickten zu dem kleinen Quadrat über der Tür. Es sprach nicht, wie sonst, die Sekretärin, sondern der Direktor.

»Soeben wurde ABC-Alarm gegeben. Der Unterricht schließt ab sofort. Alle Schüler begeben sich auf schnellstem Weg nach Hause. «

Es folgten ein paar Sätze, die in wildem Lärm untergingen. Alle rannten zu den Fenstern und spähten hinaus. »Verstehst du, was das soll?« fragte Meike, Janna-Bertas Freundin.

Janna-Berta schüttelte den Kopf. Sie spürte, wie ihr die Hände kalt wurden. Irgend etwas war geschehen. Aber was? Sie dach te an Uli, ihren kleinen Bruder.

»Geht nach Hause«, sagte Herr Benzig.

Vom Korridor drang Lärm herein: aufgeregtes Geschrei, eilige Schritte, Türenschlagen.

 

Dagmar Chidolue: Lady Pank. Weinheim und Basel: Beltz Verlag 1991

 

Manchmal hatte Terry den Wunsch, diese ganze Welt zu zer schlagen, und manchmal, und auch das verstand sie nicht, fühlte sie sich so froh, daß sie dachte, sie würde platzen. Ihr Bauch, ihr Körper, ihr Herz, oder was es auch immer war, spannte vor Glück, und sie hatte das Gefühl, daß sie was Gro ßes leisten könnte. Dann konnte sie stundenlang aus dem Fenster sehen, ohne zu denken, oder im Tiergarten auf der Parkbank hocken und sich vom warmen Wind streicheln las sen. Es war, als ob sie ein Stück Ewigkeit wäre. Sie fand sich gut und wichtig und all das.

Dieser Zustand hielt längstens ein paar Stunden und trat höch stens ein paarmal im Jahr ein. In der übrigen Zeit, und die dau erte weiß Gott lang, hatte Terry diese Wut. Dann zog sie sich das grellgelbe T-Shirt an und malte sich die Nägel schwarz. Sie lief den ganzen Nachmittag durch die Stadt und hoffte, daß alle Leute sahen, daß sie jetzt ein Kanarienvogel war, und wenn sich jemand nach ihr umdrehte und sie zu auffällig anstarrte, streckte sie die Zunge raus. Gegen Abend ging es dann besser. Wenn sie zurückkam, war sie nur noch ein fünfzehnjähriges Mädchen im gelben T-Shirt und mit einem Riesenhunger nach etwas, von dem sie wußte, daß sie es nie bekommen würde.

 

 

Michael Ende: Die unendliche Geschichte. Stuttgart u. a.: Thienemanns 1979

 

Für Bastian Baltasar Bux waren es die Bücher.

Wer niemals ganze Nachmittage lang mit glühenden Ohren und verstrubbeltem Haar über einem Buch saß und las und las und die Welt um sich her vergaß, nicht mehr merkte, daß er hungrig wurde oder fror —Wer niemals heimlich beim Schein einer Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen hat, weil Vater oder Mutter oder sonst ir gendeine besorgte Person einem das Licht ausknipste mit der gutgemeinten Begründung, man müsse jetzt schlafen, da man doch morgen so früh aus den Federn sollte —Wer niemals offen oder im geheimen bitterliche Tränen ver gossen hat, weil eine wunderbare Geschichte zu Ende ging und man Abschied nehmen mußte von den Gestalten, mit denen man gemeinsam so viele Abenteuer erlebt hatte, die man liebte und bewunderte, um die man gebangt und für die man gehofft hatte, und ohne deren Gesellschaft einem das Leben leer und sinnlos schien —Wer nichts von alledem aus eigener Erfahrung kennt, nun, der wird wahrscheinlich nicht begreifen können, was Bastian jetzt tat.

Er starrte auf den Titel des Buches, und ihm wurde abwech selnd heiß und kalt. Das, genau das war es, wovon er schon oft geträumt und was er sich, seit er von seiner Leidenschaft befal len war, gewünscht hatte: Eine Geschichte, die niemals zu Ende ging! Das Buch aller Bücher!

Er mußte dieses Buch haben, koste es, was es wolle!

 

Nina Schindler: Die Schöne und der Boss. Würzburg: Arena Verlag 1999

 

Erst als ich schon in der Straßenbahn saß, fiel mir ein, dass er gar keinen genauen Ort gesagt hatte. Dann meinte er doch be stimmt wieder das Café, wie letztes Mal. Oder meinte er den Platz an der Böschung vom Osterdeich? Mir brach der Schweiß aus. Warum hatte ich nicht gefragt?

Was sollte ich jetzt machen?

Ich stieg am O-Weg aus und bummelte an den Schaufenstern entlang, warf einen kurzen Blick in das Eiscafé und sah, dass Niklas nicht darin saß. Hm. Ich ging jetzt schneller, bis ich fast rannte, und schnaufte ein bisschen, als ich den Sielwall rauf bis zum Deich hetzte. Ich ließ den Blick über die vielen hun dert Quadratmeter grünen Rasen schweifen.

Da drüben hatten wir neulich gesessen, na ja, eher gelegen, aber da saß jetzt eine Gruppe von Rollerbladern.

Da drüben — war er das?

Ich hielt die Hand schützend über die Augen und kniff die Au gen zusammen. Nein.

Ich ging langsam den Abhang hinunter, drehte mich nach allen Seiten um und suchte.

Scheiße!

Er war nicht da!

Ich lief den Weg an der Weser entlang und suchte den Deich von unten ab.

Niemand, der allein saß und so aussah wie Niklas. Mein Herz bummerte, ich kriegte feuchte Hände.

 

 

 

 

 

Paul Zindel: Eugene Dinmans erstaunliches und dem Tode trotzendes Tagebuch.                Sauerländer Verlag 1990

 

22 Uhr 26

Dinge, die sich heute ereignet haben und die ich niemals ver gessen werde:

1. Ich warf einen Löffel nach meiner Mutter und traf sie am lin ken Bein, während sie über Mr. Mayo sprach.

2. Pearl Buck und Peter Lorre wurden heute vor vielen Jahren geboren. Inzwischen sind alle beide tot.

3. Ich las in meiner Weltgeschichte, daß man im Paris des 14. Jahrhunderts Bärte mißbilligte, da man fand, die Männer sä hen damit aus wie Wölfe.

4. Ich hörte meine Schwester Penelope in ihrem Zimmer wei nen.

5. Ich bin heute fünfzehn geworden und habe den Entschluß gefaßt, mein erstes, ungemein persönliches Tagebuch in An griff zu nehmen.

23 Uhr 17

Es macht mir zu schaffen, daß ich meiner Mutter einen Löffel ans Bein geworfen habe. Ich müßte dringend mit jemandem ganz offen reden und versuchen, das, was in mir vorgeht, zu ak zeptieren. Sonderlich viele Freunde habe ich im Augenblick nicht. Der beste ist Calvin Kennedy. Was ja vermutlich gar nicht so schlecht ist, weil ich nämlich, auch wenn ich erst fünf zehn bin, schon jetzt weiß, daß ich mal ein berühmter Schrift steller wie Mark Twain, George Bernard Shaw oder Anaiis Nin sein werde. Und die haben auch alle Tagebücher geführt, ge nau wie Dostojewski, wenn er nicht gerade auf hohen Fenster simsen stand und sich Wodka hinter die Binde kippte. Außerdem habe ich heute abend viel nachgedacht, und mir ist klargeworden, daß der kommende Sommer von allergrößter Wichtigkeit für mich werden wird. Gut möglich, daß dieses Ta gebuch einen Bericht über meine schmerzhafte, in der Endphase liegende Pubertät abgeben wird. Auch noch einige andere Dinge haben sich in jüngster Zeit ereignet, die eben falls dazu führten, daß ich nut (len Aufzeichnungen anfing.

 

 

Klaus Kordon: Wie Spucke im Sand. Weinheim und Basel: Beltz 1996

 

Ich lernte bald: Ich selber war meine einzige Hoffnung. Wenn ich essen wollte, mußte ich kämpfen. Und so wurde mein Le ben in dieser Zeit denn auch ein einziger Kampf ums Uberle ben. Ständig zog ich durch die Straßen, ständig lag ich auf der Lauer, irgendwo irgendwas zu essen zu ergattern oder mir ein paar Paise zu erbetteln. Ich zog durch Basarstraßen und Tem pelgassen, durch Parks und das vornehme Bahnhofsviertel und kam mir oft wie einer dieser halbverhungerten Hunde vor, die vor Schwäche nicht mal mehr winseln konnten. An den Aben den aber kehrte ich immer wieder zum Ganges zurück. Jene Terrasse, auf der ich meine erste Nacht verbracht hatte, wurde so etwas wie mein Ruheplatz. Dort fühlte ich mich nach wie vor beschützt: von Mata Ganga und den vielen frommen Pilgern, die zu allen Tages- und Nachtzeiten dort eintrafen. Vor den zahllosen Ratten aber, die links und rechts vom Ufer hausten, mußte ich mich selber schützen. Das kostete mich oft halbe Nächte Schlaf. In die Stadt jedoch wäre ich deshalb nicht zu rückgegangen; eine Pflasterschläferin wollte ich nicht werden.

 

Kirsten Boie: Ich ganz cool. Hamburg: F. Oetinger 1992

 

Schule, also logisch, das bockt nicht so, aber was sollst du ma chen, ich geh trotzdem meistens hin. Und zurück denn immer, also logisch ist zurück besser, geh ich meistens mit Holger und Recep, und denn machen wir noch Mutjoggen auf dem Weg. Also Mutjoggen, nä, darfst du erst losrennen, wenn das Auto voll auf der Kreuzung ist; der Kühler muss hinter der Fenster scheibe von Edeka, sonst gilt das nicht. Gibt es auch keine Ausnahme, Recep sagt, egal, ob einer kleiner ist oder was und kürzere Beine hat, ganz egal. Wer mitmachen will, gleiche Spielregeln.

Der Trick ist, du musst an der Stelle rennen, wo die Baustelle ist, da können die Autos nicht ausweichen. Bremsen können sie da auch nicht mehr, haben wir alles abgecheckt. Entweder du bist schnell genug rüber, oder bornmmppp!, ist es gewesen. Alles nur noch Matsche. Ja Pech.

 

 

Sheila Och: Karel, Jarda und das wahre Leben. Aus dem Tschechischen v. J. Novak. Würzburg: Arena 1996

Unsere ganze Familie ist furchtbar nervös. Vater ist ein erfahrener Nägelbeißer und hat einen Augentick. Mutter ist so kribbelig, daß sie uns oft auschreit und unmotiviert Ohrfeigen austeilt (obwohl sie ihre Kinder aus Prinzip nie schlägt). Meine Schwester wäre leicht imstande, sich wegen eines einzigen Pickels auf dem Klo zu erhängen. Es ist soweit, daß ich selbst manchmal glaube: Das hal te ich nicht mehr aus, auch ich werde bald an meinen Nägeln knabbern, einen Augentick haben, andere anschreien und so. Aber schließlich sage ich mir, einer muß doch normal bleiben, und setze ich mich in irgendeine Ecke und schaue mir alles von dort an.

»Jesusmaria«, pfeift Mutter Vater an, »sag dem Bengel, er soll nicht so gucken!~<

Vater bekommt seinen Augentick.

»Schau uns nicht so an!« gibt er von sich, und schwuppdiwupp! schon hat er den Daumen im Mund; zwack, zwack, hört man, wie er an seinen Nägeln kaut.

>~Das ist kein Kind, das ist der leibhaftige Streß!« schreit Mutter, und alle schauen mich an, als wäre ich ein Verbrecher.

Als ich noch klein war, haben sie mit mir geschmust und nannten mich Karlik, Kája, Bärchen und so. Jetzt höre ich nur:

»Karel, hör auf.~<

»Karel, wie oft muß ich dir das sagen!« Und auch: »Hast du keinen Kamm?«

»Hände waschen!«

»Wenn du nicht aufhörst zu widersprechen, setzt es was!«

Ich warte nur darauf, daß man mir eines Tages befiehlt: Koch dich, back dich, schmor dich, Senf und Ketchup drauf, damit du uns besser schmeckst.

Vielleicht könnten meine Eltern dann eine Kneipe aufmachen, die Zum wohlschmeckenden Karel heißen würde. Hier bei uns in Böhmen macht ja heute sowieso jeder zweite eine Kneipe auf, da mit er schnell reich wird, nur in unserer Familie passiert nichts.